Ashes, Band 02: Tödliche Schatten (German Edition)
Veränderten über die Schneedecke zurück in den dunklen Wald und waren verschwunden. Langsam ging die Nacht zu Ende. Da der Mond längst untergegangen war, musste Chris auf das erste Morgenlicht warten. Der zweite Leichenstapel erinnerte ihn an die Überbleibsel eines Tabletts mit Chips und Dips. Es war nicht gerade viel übrig, nur noch vereinzelte Reste lagen neben den zerfetzten Kleidern verstreut im Schnee. Obwohl er sich anstrengte, entdeckte er nicht, was er suchte. Was nicht unbedingt schlecht war. Chris senkte den Feldstecher. Seine Arme waren schwer wie Blei und seine Augen entzündet und vor Müdigkeit voller Sand. Sie hatten einen langen Tag vor sich, und er sollte sich ausruhen, aber zuerst musste er sich vergewissern. Und das hieß, er musste raus, und zwar allein und jetzt sofort, bevor Lena und Nathan aufwachten.
Lena rührte sich, als er vom Hocker aufstand. Das Herz rutschte ihm in die Hose, und er erstarrte, seine Nackenhaare sträubten sich vor Schreck. Nein, nein, nein! Nicht ausgerechnet jetzt! Doch dann stieß Lena einen Seufzer aus, murmelte etwas Unzusammenhängendes und schlief wieder fest ein.
Es war der längste Weg seines Lebens, als marschiere er zum Schafott. Draußen war es klirrend kalt und so trocken, dass seine Augen schmerzten. Auch Luft holen tat weh. Das Knirschen seiner Stiefel auf dem vereisten Schnee war so laut, dass er zusammenzuckte. Und er spürte in seinem Rücken einen Druck, als würde er beobachtet, aber immer, wenn er sich umdrehte, starrten ihn nur die leeren Fenster und Türen der Schule an. Bei jedem Schritt rechnete er damit, dass ihm jemand von hinten die Hände um die Gurgel legte, und wenn er aufschaute, fürchtete er, in dem düsteren Wald vor sich Gesichter zwischen den Bäumen zu sehen. Er hatte sich noch nie so allein gefühlt. Was würde er mit dem, was er fand – oder nicht fand –, anfangen? Was dann? Noch konnte er kehrtmachen. Wahrscheinlich irrte er sich. Und wenn er nichts fand, bewies das auch nichts. Selbst die Veränderten konnten frieren.
Lieber Himmel, ich hoffe, dass ich das Ding finde, dachte er. Ich hoffe es so sehr.
Aber er fand es nicht.
Zwei Stunden später führten sie die Pferde aus der Turnhalle. Inzwischen schien die Sonne, und der Schnee glitzerte wie von Diamanten übersät. In Chris’ bereits gereizte Augen stiegen Tränen.
»Chris«, sagte Lena. Sie hatten heute den ganzen Morgen kaum miteinander gesprochen, aber jetzt sah sie ihn mit einem Ausdruck an, den er nicht deuten konnte. »Tut mir leid. Ich habe überall gesucht, aber ich kann ihn einfach nicht finden. Weißt du ganz bestimmt nicht, wo mein Schal ist?«
Er setzte sich die Sonnenbrille auf, die seine Augen verdeckte, und log ein zweites Mal.
»Nein«, sagte er. »Keine Ahnung.«
64
Du solltest den Hund hier lassen«, meinte Mellie, als Tom Raleigh in die Tasche an der Sattelnase hievte. Mellies Schimmelschecke stieg der Hundegeruch in die Nüstern, er wieherte leise, und Mellie fuhr ihm beruhigend über den Kopf. »Ein zweites Pferd hält uns bloß auf.«
»Mir egal«, sagte Tom kurz angebunden. Er drehte sich zur Seite und fing an, die unförmige blaue Plane festzuschnüren, in der das armselige Bündel lag. Seine rechte Hand schmerzte, aber er zwang die Muskeln zu gehorchen. Dixies Wunde war gut genug verheilt, dass er es gewagt hätte, sie zu reiten, aber er hatte Angst, dass Raleighs starrer Körper sie nervös machen würde, deshalb hatte er sich für das Pferd der Kings entschieden. Während er werkelte, setzte sich eine einsame Krähe auf den Flaggenmast und stieß einen unfrohen Schrei aus, als sei jemand schwer verletzt worden. Oh, oh. Doch vielleicht klang es nur in seinen Ohren so.
»Aber der Boden ist gefroren.« Weller saß auf einem großen, muskulösen Rotbraunen. »Du wirst ihn nicht begraben können.«
»Dann verbrenne ich ihn. Oder schichte Steine über ihm auf. Der Hund hat mir das Leben gerettet. Er gehört zu denen, die mir wichtig sind, und ich werde ihn nicht einfach hier liegen und verrotten lassen.« Mit einem verbissenen Ruck zurrte Tom das letzte Bändel fest. Trotz des Salbenverbands jaulte seine Hand auf vor Schmerz. Würde noch eine Weile dauern, bis das verheilt war. »Was ist mit den anderen Tieren?«
Gereizt sah Weller ihn an. »Das habe ich dir doch gesagt. Ich kenne unterwegs eine Farm, wo wir haltmachen können. Drei alte Kerle. Brüder. Die werden sich darum kümmern.«
»Und ihr seid sicher, dass die kommen, auch
Weitere Kostenlose Bücher