Ashes, Band 02: Tödliche Schatten (German Edition)
fragte: »Lena?«
»Ja, stimmt«, plapperte sie nach. »Dreizehn.«
»Siehst du … Deshalb war ich mir gleich ziemlich sicher, dass er es nicht ist. Und das heißt, dass wir ihn vielleicht finden, wenn wir jetzt nach Oren kommen.«
»Okay. Danke, Chris.« Sie hielt inne. »Es tut mir leid.«
»Ich weiß.« Er drückte sanft ihre Schulter. »Mir auch. Aber es wird sich alles einrenken, Lena. Irgendwie geht es weiter. Jetzt schlaf ein bisschen, ja?«
»Ja«, murmelte sie und war etwas überrascht, dass ihr nicht die Tränen kamen. Als er aufstand, setzte sie hinzu: »Pass auf den Tee auf.«
»Was?«
»Der Tee«, sie zeigte auf den Boden. »Der Becher neben deinem linken Fuß, gleich vor dem Hocker.«
»Ach ja?« Ein leises Klicken, ein Lichtstrahl. Der Becher schien aus der Dunkelheit hervorzuspringen. »Wow. Danke. Den hab ich nicht gesehen.«
»Gerne doch.« Das von dem Aluminium reflektierte grelle Gelb tat ihr in den Augen weh. Sie kniff sie zusammen und rollte sich auf die andere Seite. Eine Sekunde später hörte sie das Klicken wieder. Chris hatte die Taschenlampe ausgeschaltet. Dann raschelte Stoff, kaltes Metall ächzte, ein leiser Seufzer, als er sich auf den Hocker setzte.
Lena zog sich den Schlafsack bis übers Kinn und starrte in die Dunkelheit, zuerst auf die unscharfen und geisterhaften blauen Nachbilder von dem Aluminiumbecher, und als diese sich auflösten, auf die klobigen Silhouetten der Labortische und Hocker. Ihr Blick wanderte über verchromte Wasser- und Gashähne, einen Scherbenhaufen aus zerbrochenen Messbechern, herumliegende Lehrbücher und die aufgefächerten zerrissenen Seiten eines Laborjournals. Das weiße Zifferblatt einer Uhr, die Zeiger eingefroren auf einundzwanzig Minuten nach neun, schwebte über der Tür des Klassenzimmers.
Es ist dunkel. Ich sollte das nicht sehen können, aber ich sehe es. Ihre Augen brannten, doch sie hatte keine Tränen mehr. Irgendetwas geschieht mit mir, und ich weiß nicht, was, und ich will, dass es aufhört. Ich will einfach nur, dass alles in Ordnung ist. Obwohl sie verstand, dass die Dinge für sie niemals wieder in Ordnung sein würden. Was für Erinnerungen an einen Bruder sie auch gehabt haben mochte, sie waren ausgelöscht. Zwar wusste sie, dass sie einen Bruder hatte, da gab es gar keinen Zweifel. Es passte zu allem, was sie empfand. Doch in ihr … da war eine Leere, die sich anfühlte wie eine entkernte und ausgelöffelte Avocado, von der nichts als die harte Schale übrig geblieben war. Wo der Bruder seinen Platz gehabt hatte, war jetzt eine Leerstelle, ein verblasstes geistiges Nachbild ohne Gesicht, ohne Namen, ohne einen Funken Erinnerung.
Und nichts war an seine Stelle getreten.
Absolut nichts.
63
Sie kamen, drei Stunden bevor es dämmerte.
Chris hatte Nathan nicht zur Wachablöse geweckt. Nach dem, was mit Lena gewesen war, hätte er sowieso nicht schlafen können. Stattdessen wartete er, dabei quälten ihn abwechselnd Schuldgefühle und kaltes Grauen.
Er war so dumm gewesen. Dabei mochte er Lena, aber eben nicht so. Oder doch? Nein. Er musste sie beschützen. Lena war krank und verängstigt und mindestens so verwirrt wie er. Sie konnte nicht klar denken. Egal, was sie sagte, sie liebte Peter, das wusste er. Und er kam nicht über Alex hinweg und wollte es auch nicht – jedenfalls jetzt noch nicht. Vielleicht war Hoffnung eine schreckliche Sache, aber er hielt trotzdem daran fest, egal, was er zu Lena gesagt hatte. Also war es besser, diese Geschichte einfach auf sich beruhen zu lassen und sich darauf zu konzentrieren, was als Nächstes zu tun war. Immer ein Schritt nach dem anderen.
Er warf einen Blick auf Lena in dem Schlafsack neben seinem Hocker. Ihr Atem ging gleichmäßig. Sie schlief. Keine weiteren Träume, soweit er es beurteilen konnte. Sein Blick richtete sich wieder auf den Schnee. Himmel, er hoffte, dass er sich irrte, aber er wurde den Gedanken einfach nicht los, dass sich dieser Veränderte ohne Not aus seinem Versteck gewagt hatte – weil er es auf Lena abgesehen hatte.
Er ließ sich die abendliche Szene noch mal durch den Kopf gehen. Bevor sie sich geküsst hatten – dumm, dumm, dumm! – , wovon hatte sie da gesprochen? Es hatte wie eine Beichte geklungen. Doch als er ihren Bruder erwähnte, hatte sie merkwürdig unsicher gewirkt. Nun, das konnte die Dehydrierung sein. Dazu seit etlichen Tagen kaum Schlaf, da war es verständlich, wenn sie ein bisschen durcheinander war.
Aber halt. Nachdenklich kaute
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