Ashes, Band 02: Tödliche Schatten (German Edition)
sah etwas Bronzefarbenes blitzen. Im ersten Moment dachte sie, Jess hätte einen Ohrring verloren. Doch dann dämmerte es ihr.
Und sie dachte: Was?
8
In dem Leben, das sie vor Rule geführt hatte, spielte Lena oft mit dem Gedanken, Brecher-Karl den Schädel wegzupusten. Wie die meisten Amish People war auch ihr Stiefvater ein passionierter Jäger gewesen. Dummerweise hatte Brecher-Karl aber keine Handfeuerwaffe besessen, sondern nur eine Schrotflinte und Gewehre, die zu groß für sie waren. Zudem bewahrte ihr Stiefvater all seine Waffen in einem mit einem Vorhängeschloss gesicherten Schrank auf, und den einzigen Schlüssel dazu hatte er. (Als sie dann vor einem Jahr ihre Chance witterte, benutzte sie ein Messer. Hauptsache, es erfüllte seinen Zweck.)
Und jetzt starrte sie in Jess’ Schlafzimmer etwas an, was ihr Verstand nicht wirklich erfassen konnte. Denn was da auf dem Boden lag, wirkte völlig fehl am Platz und war zugleich unübersehbar, es prangte da wie ein Hundehaufen. Eine Schrotpatrone.
Die Spitze war mit einer Messingkappe versehen, und auf der schwarzen Hülse stand in Schablonenschrift: HD ULTIMATE HOME DEFENSE 1250–1 1/4 X 4, darunter in geschwungenen Lettern: REMINGTON .
Jess hatte eine Schrotflinte ? Das war ihr neu. Ihr Blick wanderte über den Boden des Kleiderschranks. Schuhe – und ein Trittschemel.
Da war doch garantiert irgendwas weiter oben im Schrank. Sie sah zwei ordentliche Kartonstapel, ehe ihr der Zipfel eines gesteppten schwarzen Stoffes, der ein bisschen über den Rand des Regalbodens hing, ins Auge fiel.
Mit dem Schemel war es ein Kinderspiel hinaufzukommen, und sie erkannte auf den ersten Blick, dass das Gewehretui leer war. Daneben stand eine offene Patronenschachtel. In dem Zehnerpack befanden sich noch drei Patronen. Zählte man die eine, die auf dem Boden lag, dazu, bedeutete das, dass die Flinte sechs Schuss hatte. Das passte. Brecher-Karl hatte immer viel Aufhebens darum gemacht, wenn er seine Schrotflinte lud: Fünf ins Magazin, eine in den Lauf. Offenbar war Jess in großer Eile gewesen, denn sie hatte beim Laden die eine Patrone fallen gelassen und sich nicht die Mühe gemacht, sie aufzuheben.
Auf dem Regalboden lag ganz hinten noch etwas: eine schwarze viereckige Mappe.
Lena betrachtete sie lange. Sie wusste auf Anhieb, was das war und wem es gehörte: Es war Alex’ Mappe, und sie sollte eigentlich in Alex’ Zimmer sein, auf dem Tisch, wo sie sie immer aufbewahrte. Zwar hatte Lena keine Ahnung von dem Inhalt der Mappe, aber sie wusste, dass dieses Ding nicht in Jess’ Zimmer gehörte. Überhaupt nicht.
Also was zum Teufel …
Ein lautes, schrilles Kreischen zerriss die Stille. Um ein Haar wäre Lena vom Schemel gefallen, während Tori – ja, es war Tori, die schrie – wieder zu kreischen begann. Hastig stieg Lena herunter, steckte die Patrone in ihre Sweatshirttasche und stürmte in Jess’ Badezimmer.
Das ist doch verrückt. Sie packte einen Arm voll Handtücher und das orangefarbene Erste-Hilfe-Päckchen und rannte aus dem Zimmer. Erst Chris und jetzt Jess – und wo steckt Alex? Warum ist ihre Mappe in Jess’ Zimmer? Und wozu braucht Jess eine Schrotflinte? Mit klopfendem Herzen platzte sie in die Küche und blieb abrupt und mit offenem Mund stehen, als sie sah, was los war.
Jess lag leblos in Nathans Armen, ihr offenes graues Haar wallte herab und schleifte über den Boden. Blut strömte über das Gesicht der alten Frau und formte einen breiten roten Latz auf ihrer Brust. Sie sah fürchterlich aus. Ja – wie tot.
»O mein Gott, was ist passiert?«, fragte Lena in blankem Entsetzen. »Wer hat das getan?«
Nathans Miene war hart wie Granit. »Alex.«
9
Alex?«, fragte Lena entgeistert. »Warum?«
»Dafür ist jetzt keine Zeit«, erwiderte Nathan und machte eine Kopfbewegung zu John. »Du hilfst mir hier. Du, Sarah,bringst mir einen Gasheizstrahler. Und ihr seht zu, dass ihr das vordere Zimmer schnell warm bekommt.«
»Was ist mit Kincaid?«, rief Lena, aber Nathan reagierte nicht. Als Sarah vorbeiflitzte, packte Lena sie am Arm. »Das ist doch Irrsinn. Ich hole den Arzt.«
»Nein.« Sarah riss sich los. »Du gehst nirgendwo hin.«
»Warum nicht?« Sie zwängte sich an Ghost und Nathans Hund vorbei. Knurrend, mit gefletschten Zähnen und gesenktem Kopf, standen die beiden Tiere da und sprangen erst zur Seite, als Lena ihren Arm voll Handtücher und das Erste-Hilfe-Päckchen auf den Küchentisch knallte. »Das ergibt doch keinen Sinn!
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