Ashes, Band 02: Tödliche Schatten (German Edition)
Eltern hatten es wohl für ein Wunder gehalten und vielleicht ein Zeichen darin gesehen.
Denn normalerweise hätte er tot sein müssen. Und es hatte einmal eine Zeit gegeben, da hatte er sich das sehnlichst gewünscht. Das war mehr als eine bloße Vermutung. Später sollte sie sich fragen, was oder wer ihn gerettet hatte. Noch später würde sie die Antwort darauf erfahren, auch wenn ihr das nichts half. Was war sie doch für ein Glückspilz.
Doch außer der Narbe gab es keinen Unterschied. Einer war das Spiegelbild des anderen, auch wenn einer der Spiegel einen Sprung aufwies. Jeder war die perfekte Blaupause des anderen, sie waren in allen Einzelheiten identisch, abgesehen von diesem einen Makel.
Kein Wunder, dass diese Veränderten sich in der Nähe von Rule herumtrieben. Kein Wunder.
Denn Wolf war Chris.
Und nun begann sie, endlich, zu schreien.
TEIL II
DER FEIND DEINES FEINDES
7
Sie hatte sich vor dem Schlafengehen übergeben und dann noch einmal, leise, mitten in der Nacht. Sie würgte und spie in einen Nachttopf, bis nichts mehr kam außer wässrigem Schleim, der ihr in der Nase brannte. Schließlich legte sich ein spinnengleicher Schlaf über sie, wob ein graues, traumloses Gespinst, das so dicht war, dass Lena verwirrt aufschreckte und sich nicht einmal sicher war, ob sie tatsächlich die Tür schlagen und den Hund bellen gehört hatte. Was war los? Ihr Verstand war noch träge, aber da dröhnte wieder das Gebell. Schlaftrunken zuckte sie unter dem Lärm zusammen. Das musste Ghost sein. Wieso kläffte Alex’ Hund?
»Halt’s Maul.« Ächzend drehte sie sich zur Seite und presste sich ihr Kissen aufs Ohr. »Lass mich schlafen, bi…«
»Sarah?« Jemand polterte die Treppe hoch. »Lena? Wacht auf, wacht auf!«
»Tori?« Mühsam richtete sich Lena auf, als die Tür aufgerissen wurde. Toris Haar sah so zottelig aus wie ein alter Topfreiniger, ihre Augen waren schreckgeweitet. »Was … ?«
» Mädel ?«, brüllte unten eine Männerstimme, während Ghost nicht aufhörte zu kläffen. »Mädel, komm runter! Wir brauchen Hilfe!«
»Was zum Teufel ist denn los?« Lena hatte den säuerlichen Geschmack von Erbrochenem im Mund. Der Gestank hing wie eine Dunstglocke über ihrem Bett. »Tori, wer ist das? Was ist los?«
»Chris!«, platzte Tori heraus und biss sich auf die Fingerknöchel. »Chris ist verletzt . Sehr schwer verletzt , heißt es.«
»Was?« Schlagartig wach schwang sich Lena aus dem Bett und schnitt eine Grimasse, als ihre Füße den Holzboden berührten. Sogar mit Socken fühlte sich der Boden eisig an, viel kälter, als er sein dürfte. Sie stand zu schnell auf, alles drehte sich um sie, und ihr wurde wieder übel. O Gott, nicht jetzt. Sie schluckte einen Schwall widerlicher Gallensäure hinunter, stützte sich auf die Matratze und griff dann nach ihrer Jeans über dem Bettpfosten. »Wieso wurde er verletzt? Wo ist Jess?«
»Sie ist weg !«, heulte Tori, während sich Sarah, ihre dritte Mitbewohnerin, ins Zimmer drängte. »Und Alex auch!«
»Ganz ruhig. Wahrscheinlich ist Alex nur noch nicht vom Krankenhaus zurückgekommen«, meinte Lena und schälte sich aus dem Nachthemd. Eine Gänsehaut überlief sie am ganzen Körper. Warum war es bloß so kalt?
»Nein, nein«, widersprach Tori mit heftigem Kopfschütteln. Ihre Zimmertür ist offen, aber ihr Bett ist noch gemacht und … «
»Kommt«, sagte Sarah, während Lena sich ein Sweatshirt überzog. »Finden wir raus, was los ist.«
In der Küche standen zwei Wachmänner in winterlichem Weiß, einer mit und einer ohne Bart. Lena entdeckte durch das Fenster einen dritten Mann – sie glaubte, dass er John hieß – , der die Treppenstufen heraufwankte.
Mit einem leblosen Körper.
»O mein Gott.« Lena schlug das Herz bis zum Hals, als John gebückt und mit einem Schwall bitterkalter Luft durch die Tür trat. Über seinen Schultern lag Chris, und als der Wachmann durch die Küche stapfte, tropfte Blut aus dem Haar des Jungen und hinterließ auf dem Boden kreisförmige scharlachrote Flecken.
»Wo kann ich ihn hinlegen?« John schwitzte so stark, dass sein Kopf dampfte.
»Hier lang.« Sarah stieß die breite Flügeltür zwischen der Küche und Jess’ Wohnzimmer auf. Taumelnd folgte John und ging in die Knie, um Chris von den Schultern zu hieven und auf die Couch zu legen. »Vorsicht, Vorsicht«, wiederholte John ein ums andere Mal, während er Chris langsam auf einer Seite herabgleiten ließ. »Er darf nicht – «
»Hab ihn«, sagte
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