Ashes, Band 02: Tödliche Schatten (German Edition)
Stiefelspitzen ab und machte eine Vierteldrehung im Uhrzeigersinn, wobei sein Bauch als Drehpunkt diente, aber dabei hatte er nicht bedacht, dass sich sein Körper jetzt parallel zum Graben befand – auf dem dünnen Rand aus schlechtem Eis.
»Ich werfe dir meinen Mantel zu«, erklärte er. »Sobald du ihn zu greifen bekommst, halt dich daran fest und … «
Da geschahen zwei Dinge gleichzeitig.
Tom stieß einen überraschten Laut aus, als die Hand des Alten aus dem Dunkel schoss und sein rechtes Handgelenk packte. Ehe er den Arm zurückziehen konnte, zog der Jäger mit aller Kraft daran, als wollte er sich an Tom hochhangeln wie an einer Strickleiter.
»He, nein, halt!«, rief Tom. Er versuchte, sich loszureißen, aber die Finger des Alten bohrten sich wie Krallen in seinen Arm, und Tom konnte sich nirgendwo festhalten. Er merkte, wie er zu rutschen begann, und plötzlich waren seine Beine im Wasser, und er rutschte noch immer …
Da machte er seinen zweiten Fehler – die falsche Bewegung zum falschen Zeitpunkt – , weil ihn die Angst packte.
Kaum spürte Tom das eiskalte Wasser an seinen Beinen, schrie er auf und zog unwillkürlich die Knie an. Dabei verlagerte sich sein Gewicht.
Das Eis gab ein hohes, animalisches Kreischen von sich, gefolgt von einem Knall, als hätte jemand geschossen, einem Ächzen und –
KRACK !
Jetzt lag auch Tom im Wasser.
35
Nein, Ray!«, schrillte Ruby. »Stopp!«
Doch für Ray gab es kein Zurück mehr. Er preschte mit solcher Wucht und solchem Tempo vor, dass keinem der Veränderten Zeit blieb zu reagieren. Mit einer Hand packte er die Browning, mit der anderen verpasste er Pickel einen Schlag vor die Brust. Pickel ruderte mit den Armen, stolperte und landete mit einem dumpfen Geräusch auf dem Hintern.
Man hörte, wie Flinten durchgeladen, Bolzen entriegelt und Pistolen gezückt wurden, und dann stand Ray da, inmitten einer waffenstarrenden Meute, die beste Zielscheibe, die man sich denken konnte. Nur dass er die Browning gegen Berettas Stirn presste und brüllte, dass die Speicheltröpfchen flogen: »Ich knall ihn ab, ich knall ihn ab, verdammt!«
»Ray!«, wimmerte Ruby und rannte auf ihn zu, die Hand ausgestreckt. »R…!«
Etwas Orangefarbenes leuchtete auf wie glühende Kohle. Ruby blieb wie angewurzelt stehen, die Augen so weit aufgerissen, dass man nur noch das Weiße mit dunklen Pünktchen in der Mitte sah. Der Gestank von feuchtem Metall breitete sich aus. Etwas Zähflüssiges spritzte in den Schnee.
Und dann kreischte, heulte, brüllte Ruby. »Aaaaahhhh, aaahhhhh, aaaahhhhh!«
36
T om schrie vor Schreck auf, dann würgte er, als ihm kaltes Wasser in die Kehle rann. Sein Kehlkopf öffnete und schloss sich. Eine wilde tierische Panik überkam ihn. Er schlug um sich, unfähig zu einem klaren Gedanken, die Angst schob sich wie eine rot lodernde Flammenwand vor seinen Verstand. Er brauchte Luft – aber woher? Sein Mund klappte auf und zu, vollzog lautlos und krampfhaft die Bewegungen des Luftschnappens, aber seine Halsmuskeln spielten nicht mit und versuchten, die Atemwege geschlossen zu halten, weil irgendein Urinstinkt ihm weismachte, er würde gerade ertrinken. Schließlich entspannten sich die Muskeln widerwillig, und er atmete mit einem schrillen Ton ein. Er nahm einen tiefen Atemzug, dann noch einen – für mehr blieb ihm keine Zeit.
Denn der alte Jäger sprang ihm auf den Rücken und versuchte sich so, aus dem Wasser zu retten. »Ha-halt!«, prustete Tom, doch der Alte war wie von Sinnen. Einen Sekundenbruchteil später versank Tom komplett im Wasser. Es war tintenschwarz, nirgendwo Licht. An den Schultern spürte er die Stiefel des Jägers, der Halt suchte. Dabei trat er Tom gegen die Stirn, und wäre der Aufprall nicht durch die Wasserträgheit abgemildert worden, wäre Tom womöglich ohnmächtig geworden. Trotzdem hatte der Tritt gesessen und tat weh. Toms Hände schnellten durchs Wasser und grapschten nach den Beinen des Alten, sodass er nun zumindest wusste, wo die Oberfläche war.
Sein Kopf schoss empor zur kostbaren Luft. Wieder kletterte der Alte wie ein Affe auf seinen Rücken und krallte die Finger in seine Schulter und in sein Haar. Seine sehnigen Arme schlossen sich zum Würgegriff um Toms Hals, und dann zog er Tom erneut hinab. Tom bekam ihn nicht zu fassen, fand keinen Angriffspunkt, um sich aus der Umklammerung zu befreien. Gerade noch ein letztes Luftschnappen, ehe ihm der Alte die Kehle zudrückte. Nur noch wenig Zeit. Je mehr er sich
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