Ashes, Band 02: Tödliche Schatten (German Edition)
wehrte, desto weniger Kraft blieb ihm, um sich an der Oberfläche zu halten. Sein Herz raste. Es gab nur noch einen Ausweg, auch wenn seine innere Stimme protestierte: Spinnst du, bist du irre, bist du wahnsinnig?
Entgegen aller Vernunft und aller Instinkte ließ er sich sinken, trieb hinab und unters Eis.
Und zog sie beide in die Tiefe.
37
Aaaaahhhhh! «, kreischte Ruby. » Aaahhhhh, aaaahhh, aaahhh!« Im Schnee lag Rubys Hand, die Finger gekrümmt wie die Beine einer toten Tarantel. Unaufhörlich schreiend, die rechte Hand zu einer knochigen Klaue verkrampft, starrte sie auf die leere Stelle, wo noch Sekunden zuvor ihre Linke gewesen war, während das Blut aus den durchtrennten Adern hervorschoss.
»Mein Gott!« Sharon stürzte sich auf Ruby, umschlang die immer noch wie am Spieß brüllende Frau und warf sich mit ihr in den Schnee. Dann drückte sie mit beiden Händen kräftig auf Rubys Handgelenk. »Ihr Dreckskerle, ihr verdammten!«
» Rubyyyy! «, schrie Ray und wollte einen Schritt auf seine Frau zu machen, besann sich aber noch rechtzeitig und richtete die Browning wieder auf Beretta. »Steh auf, du Dreckskerl, steh auf ! Wir verschwinden jetzt von hier, und wenn einer von euch auch nur den kleinen Finger rührt … «
Niemand regte sich, allerdings stand Beretta auch nicht auf. In der Luft lag eine ungeheuere Spannung, sie brodelte förmlich vor Gerüchen und Bedeutungen. Es gab so viele davon, dass Alex nur noch den Gedanken fassen konnte, wie seltsam es doch war, dass keiner von den Veränderten seine Waffe benutzte. Als Einziger hatte dieser Ninja aus Leopards Mannschaft reagiert, der Ruby die Hand abgehackt hatte. Ein anderer Ninja hätte Ray ebenso schnell den Kopf abhauen können. Mit all ihren Waffen könnten sie Ray locker überwältigen. Zwar hatte die Browning nur einen mittelschweren Abzug – das Abzugsgewicht lag bei kaum mehr als zwei Kilo – , aber die Wahrscheinlichkeit, dass Ray mit seinem Finger noch so viel Druck ausüben konnte, wenn er von Kugeln durchsiebt wurde, war gering. Nicht gleich null, aber wirklich vernachlässigbar gering. Pickel beispielweise stand direkt neben Ray und könnte ihn mit einem einzigen kräftigen Tritt von den Füßen holen. Jeder könnte irgendetwas gegen ihn unternehmen. Der Angriff auf Ruby war spontan gewesen, eine Demonstration der Macht – eigentlich müsste Ray schon tot sein.
O mein Gott. Alex verschlug es den Atem, als es ihr dämmerte: Er ist praktisch schon tot. Es ging nie wirklich darum, eine Entscheidung zu treffen, denn er hat die Browning. Nathans Gewehr. Und an jenem allerersten Tag, als Spinne den Abzug betätigte, da –
»Ray!«, rief Alex. »Nicht, Ray, die Waffe geht n…«
Da drückte Ray ab.
38
Kaum gerieten sie unter die Eisschicht, da spürte Tom, wie der Alte zu zappeln begann, ohne jedoch Tom aus seinem Würgegriff zu lassen. Sogar mit dem zusätzlichen Gewicht hatte Tom dank der Luft in seinen Lungen Auftrieb. Er würde wie ein Korken oben treiben, bis er ertrank.
Also zog und zerrte Tom sie beide mit kräftigen Armbewegungen nach unten. Es widersprach jeglicher Logik. Sein Verstand schrie ihm förmlich zu, er solle aufhören, aufhören! Luft war oben. Unten lauerte der Tod. Aber genau deshalb tat er es.
Der alte Mann ließ los.
Augenblicklich kehrte Tom um, machte eine Drehung und versuchte, sich zu erinnern, wo oben war – denn in dieser unsäglichen Finsternis ringsum hatte er die Orientierung verloren. Er spürte, wie der Jäger ganz in seiner Nähe um sich schlug. Hände grapschten aus dem Dunkel nach ihm, Finger krallten sich in sein Hemd. Tom winkelte den Ellbogen an und ließ die Faust vorschnellen. Dem Aufprall folgte ein vom Wasser gedämpfter Schrei des Alten, und dann trieb etwas an Toms Gesicht vorbei: Luftblasen, die zur Oberfläche drängten. Mit energischen Beinschlägen folgte er ihnen und ließ den Alten in der Dunkelheit zurück.
Gleich, gleich, gleich … Das Wort hatte Gewicht und Substanz, es durchdrang das Pochen seines Herzens und das scharfe Brennen in seiner Brust. Gleich musste er oben sein, gleich, gleich …
Und dann hörte er etwas anderes, es klang rhythmisch und aufgeregt. Raleigh. Raleigh war oben und bellte. Er folgte dem Geräusch. Mit letzter Kraft schwamm er höher, die Finger gespreizt –
Und stieß auf eine feste Eisdecke.
39
Neinneinnein! Das Feuer in Toms Lungen brannte immer mehr, und sein Verlangen nach Luft war so übermächtig, dass er nur mit Mühe einen panischen
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