Ashes - Ruhelose Seelen (German Edition)
doch gesagt, er verblutet«, wandte Jayden ein.
»Ich sagte vielleicht, und wir brauchen ja nicht noch nachzuhelfen. Denn je länger ich drüber nachdenke, desto mehr befürchte ich, dass ein Zacken auf eine Arterie drückt, und wenn wir den rausziehen …«
O mein Gott. Das Mädchen, Hannah, sprach immer noch, aber ihre Stimme war nur noch ein Summen, während ihn plötzlich die Erinnerungen überschwemmten, als sei der Damm gebrochen, der sie zurückgehalten hatte: Nathan, das spröde Knacken in seinem Hals, als diese Riesenkeule ihn vom Pferd stieß. Dann war er, Chris, vorwärtsgerannt – ein blöder Fehler – und dann gab es einen Mordslärm, als etwas durch die Bäume krachte. Aber nicht von der Seite, sondern von oben. Etwas Dunkles, Großes, das auf sein Gesicht zurauschte. Einen Moment lang hatte er sich nicht rühren können, nicht nur vor Schreck, sondern weil seine Füße … Nein, Schneeschuhe, sie steckten fest, in den Schnee gerammt … Er hatte flaschengrünes Glas glitzern sehen, Eisennägel wie Borsten, und dann hatte er begriffen: Das Ding war eine Tigerfalle, bestehend aus einer riesigen Scheunentür, die aus den Bäumen direkt auf ihn herabsauste.
Nichts wie weg, fort von dem Ding. Aber er war nicht schnell genug gewesen. Er erinnerte sich, wie ihn das Gewicht niederdrückte, erinnerte sich an das Reißen in seinen Beinen, die Nägel, die sich in sein Fleisch bohrten. Der unglaubliche Schmerz. Das jähe Pulsieren von Blut. Sie dürfen die Tür nicht bewegen. Vor seinem inneren Auge sah er, wie die Nägel, die ihn womöglich gleichzeitig bedrohten und retteten, plötzlich herausgezogen wurden wie Korken, und sein Leben in heißen roten Strömen im Schnee zerrann.
Komm schon. Chris mobilisierte all seine Kräfte, spürte das Zucken kleiner Muskeln. Der Druck auf seinen Augenlidern war gewaltig. Oder ich bin wirklich so schwach, und wenn das so ist, werde ich sterben.
»Hey!«, rief das kleine Mädchen. »Hey, er macht die Augen auf, er ist …«
»Ahhh.« Seine Lider öffneten sich ganz langsam, eine übermenschliche Anstrengung, die ihm Schweißperlen auf die Oberlippe und den Hals trieb. »Hahh …«
»O Mann«, sagte das Mädchen, und dann spürte er, wie ihre Finger an etwas zerrten. Der Druck ließ plötzlich nach, als sie ihm die Rollmütze über die Stirn hochzog. »Kein Wunder. Besser so?«
Ja. Mühsam blickte er auf, und da war sie, nur ein paar Handbreit von seinem Gesicht entfernt. Viel konnte er nicht erkennen. Er war überwältigt von der Anstrengung, außerdem konnte er im trüben Licht nur verschwommene Schemen erkennen. »Ahhh«, stöhnte er wieder.
»Hey, er ist wach! Er hat die Augen geöffnet!« Das kleine Mädchen strahlte. »Hi.«
»Hah«, ächzte er und fuhr sich mit der geschwollenen Zunge über die tauben, trockenen Lippen.
»Hast du Durst? Möchtest du einen Schluck Wasser?«
»Mmm.« Ihre Augen könnten hellblau sein, dachte er, und sie mochte acht oder neun Jahre alt sein. Wie hatte sie ihn gefunden? Nathan war tot. Wer also? Jemand anderer … Dann fiel ihm der Name ein, und er sah ihr Gesicht, das wie ein Wolkenschleier an ihm vorüberzog: Lena. Sie waren unterwegs nach Oren gewesen, hatten den Umweg nehmen müssen, weil … Rule hat uns gejagt, Weller …
»Er hat Durst!«, rief sie. Hinter dem Mädchen sah er jetzt einen breiten, in den Schnee gegrabenen Trichter, durch den sie sich anscheinend zu ihm vorgebuddelt hatte. »Er will was trinken!«
»Rutsch rüber«, sagte Hannah. »Damit ich ihn mir mal ansehen kann.«
»Mach ich.« Und zu ihm: »Keine Sorge. Wir haben noch genug Zeit, bis es dunkel wird. Wir holen dich raus. Eli und ich haben dich gefunden. Ich hab dir aus meiner Rettungsdecke ein Zelt gebaut, und dann bin ich mit meinem Hund zu dir reingekrochen, um dich warmzuhalten, bis Eli Hilfe geholt hat. Aber jetzt wird alles gut. Wir haben dich. Wie heißt du?«
»Cuh…« Aus seiner trockenen Kehle kam ein Knacken. »Cuh… Chrisss.« Das Wort klang wie ein Ballon, aus dem die Luft entweicht. »Chrisss…«
»Chris?«, sagte sie und strahlte, als er ein Nicken zustande brachte. Plötzlich traten ihm Tränen in die Augen, weil es, bei Gott, noch nie so schön gewesen war, den eigenen Namen zu hören.
»Hi«, sagte das kleine Mädchen noch mal. »Ich heiße Ellie.«
15
Ellie? Seine Erleichterung war mit einem Schlag verflogen. Der Streit fiel ihm wieder ein, und wie Alex ihn angefleht hatte, das kleine Mädchen zu suchen. So viele
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