Ashes - Ruhelose Seelen (German Edition)
das Monster denken: dieser Sprung in Pickels Gehirn, der Blick durch seine Augen, Wolfs plötzliches Auftauchen. Möglicherweise war Wolf sowieso nicht weit weg gewesen und kam zufällig gerade rechtzeitig hereingestürmt. Aber genauso gut kann es sein, dass das Monster etwas damit zu tun hat, so wie vor ein paar Tagen, als ich unter dem Schnee lag. Beide Male war sie kurz vor der Ohnmacht gewesen, und das Monster hatte Panik bekommen. Wäre nicht das erste Mal, und was sollte sie verdammt noch mal dagegen tun? Was konnte sie überhaupt tun?
Muss mir was überlegen, muss das Monster unter Kontrolle bringen. Ihr Gesicht tat höllisch weh. Sie dachte an die Erste-Hilfe-Tasche. Da könnte sich ein Schmerzmittel finden. Nein, bleib klar. Wenn du abdriftest, kommt das Monster raus. Sie leckte sich einen Tropfen Blut von der Unterlippe. Ich halte das aus. Außerdem muss ich das Zeug aufheben, bis wir es wirklich brauchen.
Erst eine Sekunde später ging ihr auf, was sie da gerade gedacht hatte: Wir?
Hör auf, Alex, du machst dich verrückt. Weil sie nichts Besseres zu tun hatte, beobachtete sie, wie Bert nach dem grünen Seesack griff, ihn öffnete und schüttelte. Die tote Vogelfrau fiel heraus, schlaff und blass wie ein gerupftes Huhn. Bert breitete den Sack auf dem Boden aus, Ernie legte die Tote darauf, dann zog er ein abgenutztes Messer mit einer scharfen, silbern glänzenden Klinge aus der Halterung an seinem Bein und machte sich an die Arbeit.
Schau nicht hin, Alex. Sie kämpfte gegen die Tränen an und ließ den Kopf auf die Knie sinken. Die Luft roch nach feuchtem Eisen, rohem Fleisch, Knochen. Zur Hölle mit dem Monster. Du bist Alex. Du wirst immer Alex sein, ganz egal … Sie spürte den kalten Luftzug, als sich die Tür hinter Pickel schloss. Einen Moment später hörte sie jemanden zögerlich näher kommen. Noch bevor er sich hinkniete – bevor sie seine Hand sachte in ihrem Haar spürte –, wusste sie, wer es war. Einen Augenblick verharrte sie regungslos, aber nicht aus Angst.
Sie rührte sich nicht, weil sie – Gott stehe ihr bei – tatsächlich überhaupt keine Angst vor ihm hatte. Nicht die geringste.
Wolfs Wut, der stechende Stahlgeruch, war verraucht. Was blieb, war Fäulnis und Nebel, verwesendes Fleisch und knackige Äpfel, und einen Augenblick lang gab sie einem ganz schlichten Bedürfnis nach. Im Moment war ihr sogar die Nähe eines Monsters recht.
Ich habe solche Angst. Urplötzlich fing sie leise an zu weinen. Ihre Schultern bebten. Und sie war wütend auf sich selber. Hör auf, hör auf … niemand wird dich retten, nur du selbst. Niemand sonst kann das. Doch hier war Wolf, und sie wehrte sich nicht gegen ihn. Vielleicht sollte es so sein. Aber sie war so erschöpft. Sie spürte, wie seine Hand durch ihr Haar strich, ganz behutsam, vorsichtig, als bemühte er sich darum, sie nicht noch mehr zu verletzen. Rühr mich nicht an, rühr mich nicht an. Aber zugleich wollte sie es, sehnte sich danach – nach einer Berührung, die keine Gewalt war –, und sie dachte, dass sie wohl ziemlich am Ende sein musste. Sie ließ zu, dass seine Finger über ihre unverletzte Wange strichen, spürte, wie sein Daumen ihre Tränen wegwischte und die Linie zwischen Kinn und Ohr entlangwanderte. Auch als er ihr Kinn anhob, wehrte sie sich nicht.
Wolfs Gesicht – Chris’ Gesicht – war völlig unbewegt. Aufmerksam. Versuchte, sie … zu verstehen, dachte sie. Er sah ihr in die Augen, als wollte er durch diese Fenster in ihr Innerstes blicken. Sein Geruch war schwer zu deuten, aber er war leicht und blumig, der Geruch nach Geborgenheit und Familie. Vielleicht lag sogar eine Spur von Mitleid oder Mitgefühl darin.
»Bitte lass mich gehen, Wolf.« Sie zuckte zusammen, als ihr etwas stechend Salziges in die Kehle lief. »Siehst du es nicht? Ich gehöre nicht zu euch. Ich bin keine von euch.«
Sein Geruch veränderte sich nicht. Möglicherweise verstand er sie ja nicht – oder wollte es nicht. Aber sein Daumen streichelte weiter ihre Wange, so wie man ein kleines Kind oder ein Kätzchen tröstet. In diesem Augenblick wurde ihr bewusst, dass sie zu weinen aufgehört hatte.
Was für eine Art von Monster bist du, Wolf? Die Frage hätte sie ebenso gut sich selbst stellen können. Was war aus ihr geworden? Was lebte da in ihrem Kopf, das einen Bewusstseinssprung hinter Pickels Augen schaffte, sich in Spinne, in Leopard hineinversetzen konnte?
Und nach Wolf tastete?
Das Monster wollte ihn. Weil sie ihn
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