Ashes - Ruhelose Seelen (German Edition)
wollte? Nein, nicht so, niemals. Was das Monster auch anstellte, es waren seine eigenen Bedürfnisse. An diesem Glauben musste sie festhalten, sonst konnte sie sich gleich in ihr Tanto stürzen.
Aber … könnte ich mir das Monster vielleicht irgendwie zunutze machen? Es war ein flüchtiger Gedanke, der sich nicht festsetzte, sondern sie nur streifte wie Wolfs Finger ihre Wange. Was, wenn ich kontrollieren könnte, wann und wie das Monster springt? Oder wenn ich es nach Wolf tasten und mit ihm reden lasse? Einfach loslassen und in Wolfs Kopf reingehen und mich selber so sehen, wie er mich wirklich sieht …
»Was?« Abrupt setzte sie sich auf. »Was zum Teufel denkst du da, Alex?« Ihre Stimme klang wütend, und das war etwas, was Wolf sehr wohl verstand, denn er zuckte zurück, seine Hand löste sich von ihrem Gesicht.
»Ich gehe raus.« Sie wollte nicht weglaufen – schließlich war sie nicht blöd –, aber sie musste raus aus diesem elenden Loch, wo es nach Tod und Veränderten stank. Während sie an der Wand Halt suchte, richtete sie sich auf. Einen Moment lang dachte sie, Wolf würde ihr helfen wollen. »Nicht«, sagte sie und lehnte sich an das kühle Holz. »Lass mich in Ruhe. Ich will nicht …«
Die Worte erstarben ihr auf den Lippen, als sie Bert sah, der auf sie zukam …
Mit dem Abendessen.
Der Arm war spindeldürr. Es war der rechte. Nicht gerade Unmengen von Fleisch. Zerrissene Reste von Haut und Adern hingen vom Musikantenknochen der Vogelfrau herunter, und – o Gott – das schmale Stahlband einer Armbanduhr umschloss immer noch das dünne Handgelenk.
In Alex’ Hirn rastete etwas aus. Entsetzt starrte sie den Arm an – war aber gleichzeitig so hungrig, dass sie tatsächlich mit dem Gedanken spielte: Wenn es keine andere Wahl gibt, wenn es um Leben oder Tod geht …
»Nein!« Mit einem unterdrückten Schrei zwängte sie sich an Wolf und Bert vorbei, riss die Tür der Hütte auf, stolperte in den bronzegelben Sonnenuntergang hinaus. Die Kälte war schneidend, als würde sie durch Glas laufen, aber sie hielt es keine Sekunde länger in dieser Hütte aus. Natürlich würden die Veränderten diese Vogelfrau aufessen, sie konnten ja nicht anders. Aber ich habe die Wahl. Nach ein paar Metern gaben ihre Knie nach und sie fiel in den Schnee. Sie grub sich hinein, bis ihr Gesicht und ihr Hals und ihre nackten Hände vor Kälte zitterten. Schließlich spürte sie das Brennen, und das war gut so.
Ich brenn mir die Augen aus, versenge mir das Hirn mit einer Fackel, egal was. Sie warf den Kopf hin und her wie ein Hund, der versucht, einen üblen Geruch in der Nase loszuwerden. Diesen Weg darf ich nicht gehen. Wenn ich das tue, hätte ich genauso gut Jack essen können und die anderen Kinder – oder gleich das Monster rauslassen.
Ganz gleich, was Wolf dachte, was er wollte, sie musste kämpfen. Darf nicht nachgeben, darf nicht … diesen Weg gehen. Sie hörte, wie sich hinter ihr die Tür der Hütte öffnete, spürte seinen Blick, erkannte seinen Geruch. Doch er beobachtete sie nur, folgte ihr nicht.
Ich bin ich. Vor sich sah sie den seltsamen Haufen neben dem Schuppen. Ich bin ich. Ich bin Alex. Sie stolperte vorwärts, rutschte durch den Schnee, bis der Haufen direkt vor ihr aufragte. Dann kniete sie sich hin, ließ den Blick über die Schneeflecken gleiten – und sah einen dunklen Stecknadelkopf über das Eis huschen. Und noch einen, und noch einen. Und noch einen.
Kämpfe.
Sie stieß beide Fäuste bis zu den Handgelenken in den Haufen. Fast unmittelbar darauf und ungeachtet der Kälte drängte eine schwarze Flut an die Oberfläche und ergoss sich über ihre Unterarme. Sie zog eine Hand zurück und inspizierte ihre Finger, dreckverschmiert und mit so vielen Ameisen übersät, dass ihre Haut schwarz war. Viele trugen Eier und winzige, milchige Larven in ihren Mundwerkzeugen.
Tu es, Alex. Tu es einfach. Bleib der Mensch, der du bist. Lass dich nicht unterkriegen.
Bevor ihr Hirn dazwischenfunken konnte, steckte sie zwei Finger in den Mund und saugte. Ameisen schwärmten über ihre Zunge. Sie schmeckte Dreck, rauen Sand und das Hefearoma gärender Erde, spürte das Krabbeln vieler Beine, das Stechen von Mundwerkzeugen auf ihrer Zunge – aber sie biss zu, tötete sie alle, schluckte sie hinunter und nahm sich ein zweites Mal. Und ein drittes Mal.
Denn die Lage war tatsächlich so schlimm.
40
»Sarah, mir ist klar, dass es nicht gut für uns aussieht. Dieses unheimliche Erdbeben macht
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