Ashford Park
Clemmie morgen jemandem begegnete, selbst wenn sie wie durch ein Wunder in einem Aufzug oder in der U-Bahn über ihren Traummann stolperte, würde sie dennoch nie so lange mit jemandem zusammen sein, wie das bei ihren Großeltern der Fall gewesen war. Der Gedanke war unglaublich deprimierend. Bei der Vorstellung, wieder neu anzufangen, die gleichen peinlichen ersten Verabredungen auf sich nehmen zu müssen, dieselben abgedroschenen Geschichten aus dem eigenen Leben zu erzählen, hätte sie sich am liebsten in die nächste Ecke verzogen.
Warum war es für manche Menschen so einfach und für andere nicht?
Geburtstag, ermahnte sie sich. Da war Feierlaune angesagt. Sie konnte nicht hineingehen und deprimiert dreinschauen. Jedenfalls nicht im Beisein sämtlicher Verwandter. Clemmies Mutter glaubte fest an Haltung in jeder Lebenslage, was im Allgemeinen darauf hinauszulaufen schien, dass man lächelte, ob einem danach zumute war oder nicht, und Tante Anna niemals verriet, wie man wirklich zu etwas stand.
Mutter hatte einen Tick, wenn es um Tante Anna ging. Clemmie hatte niemals irgendwelche boshaften Neigungen bei ihrer Tante entdecken können. Ja, sie war manchmal ein bisschen daneben und nicht ganz echt, aber bösartig? Doch ihre Mutter war überzeugt, dass es Tante Annas einziger Lebenszweck sei, ihr eins zu versetzen. Clemmie glaubte eher, dass Tante Annas einziger Lebenszweck Tante Anna war, und das war etwas ganz anderes.
An der Garderobe im Flur hängte Clemmie ihren Mantel auf und schob ihn zwischen ein pelzbesetztes Kaschmircape, das nur Tante Anna gehören konnte, und einen abgetragenen Burberry. Die Tür zur Wohnung war nur angelehnt, Clemmie konnte die unverwechselbaren Geräusche hören, die eine Cocktail-Party begleiteten: das Stakkato der Stimmen, das Klappern von hohen Absätzen auf Parkett, den diskreten weichsohligen Schritt der Kellner, die Krabbenküchlein und Räucherlachsschnittchen servierten.
«Da bist du ja endlich.» Ihre Mutter musste auf der Lauer gelegen haben; sie reagierte, sobald Clemmie die Tür öffnete. «Du bist die Letzte.»
«Ich war noch in einer Besprechung», begann Clemmie, doch ihre Mutter blickte schon stirnrunzelnd zu ihrer linken Hand hinunter.
«Du trägst deinen Ring nicht.»
«Es ist nicht mehr meiner.» Sie sah ihn, auch wenn er noch in ihrer Wohnung lag, nur noch als Leihgabe, nicht mehr als ihr Eigentum. Sie würde ihn Dan zurückgeben, wenn sie ihn das nächste Mal sah, und dazu sein
Star Wars
-Video, sein Penn-Sweatshirt und seine Turnschuhe. Die Zahnbürste hatte sie schon weggeworfen. Sie hatte daran gedacht, sie zu behalten, um mit ihr die Fugen zu säubern, aber das schien ihr dann doch ein wenig zu rachsüchtig, ein wenig zu voodoo-artig. Sie wollte nicht rachsüchtig sein. Sie hatten sich in aller Freundschaft getrennt, wenigstens theoretisch.
Konnte man sich in einer solchen Situation überhaupt in Freundschaft trennen? Es waren Worte gefallen … Sie hatte auch ausgeteilt, aber einige Bemerkungen Dans über ihren Charakter ärgerten sie immer noch. Ausgerechnet er wagte es zu sagen, dass sie emotional nicht verfügbar war. Wer im Glashaus sitzt, Dan, wer im Glashaus sitzt …
Ihre Mutter warf einen vorsichtigen Blick über ihre Schulter, um sich zu vergewissern, dass keine Verwandten in Hörweite waren. «Ich verstehe dich nicht, wenigstens heute Abend hättest du ihn doch noch tragen können.»
Es wäre ja furchtbar, wenn die Verwandten mitbekämen, dass ihre Verlobung geplatzt und sie mit vierunddreißig wieder Single war, Marjories sitzengebliebene Tochter. Hörte sich nach Jane Austen an. Sollten sie diese Zeiten nicht eigentlich längst hinter sich haben? Besonders ärgerte sie, dass gerade ihre Mutter diese Haltung einnahm, die Frau, die sie stets unnachgiebig angehalten hatte, zuerst an ihre Karriere zu denken. Bis sie dreißig geworden war, da hatte sich ihre Meinung schlagartig geändert.
Clemmie fixierte ihre Mutter mit festem Blick. «Du hast Dan doch sowieso nicht gemocht.»
Ihre Mutter war entrüstet. Sie war gut in Entrüstung. «Das habe ich nie gesagt.»
«Was wäre denn deine Deutung für eine Bemerkung wie, ‹es ist vielleicht an der Zeit, dir die Sache noch einmal zu überlegen›?»
«Damit wollte ich nie … schon gut. Darüber reden wir später.»
Mutters Antwort auf alles: leugnen, leugnen, leugnen. Wenn wir so tun, als wäre alles in schönster Ordnung, dann ist es auch so.
«Gut», sagte Clemmie und ging an ihrer
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