Ashford Park
von aufgedonnert bis nackt gesehen. Das letzte Mal hatte sie sich in Rom für ihn hübsch gemacht, mit diesem billigen Sommerkleid, das in dem Jahr ihr Lieblingskleid gewesen war, und halsbrecherisch hohen Sandaletten. Bei der Erinnerung fühlte sie sich leer und traurig.
Aber vielleicht kam das auch nur daher, dass sie den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte.
Sie schlug die Beine in den hohen Stiefeln übereinander und beobachtete Tony, der schaute und so tat, als ob er nicht schaute. Es war ziemlich prickelnd, das Flirten wiederzuentdecken – besonders nach der letzten Begegnung mit Jon und seiner Caitlin. Aber eigentlich hatte das gar nichts damit zu tun, sagte sie sich hastig und trank einen Schluck Wasser. Sie genoss es einfach, einmal wieder von einem halbwegs interessanten Mann bewundert zu werden. Jon würde grün vor Neid werden, wenn er wüsste, dass sie mit einem Nachfahren seiner Forschungsobjekte unterwegs war.
«Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr es mich freut, dass Sie sich die Zeit nehmen konnten», sagte Tony, ehrlich, wenn auch nicht ganz erfolgreich bemüht, ihr ins Gesicht zu blicken und nicht auf ihren Busen zu starren. Er räusperte sich. «Ich hatte schon gefürchtet, Sie wären an Ihrem Schreibtisch angekettet.»
«Nicht mehr», antwortete Clemmie. «Ich bin dabei, die Ketten abzuwerfen. Ich denke daran, in der Kanzlei aufzuhören.»
«So wie ich Mr. Dietrich erlebt habe, kann ich das verstehen», sagte Tony und entschuldigte sich sofort. «Tut mir leid. Das geht mich wirklich nichts an.»
«Macht doch nichts.» Clemmie beugte sich vor und lächelte verführerisch. «Sie haben ja völlig recht. Mr. Dietrich ist ein absolutes Arschloch.»
Tony zwinkerte. Ob aus Verwirrung über den Einblick in ihren Ausschnitt oder aus Schock über ihre Ausdrucksweise, war nicht zu sagen. Doch er fasste sich mit bemerkenswerter Souveränität. «Na dann kann man Sie zu Ihrem Entschluss nur beglückwünschen.»
Clemmie nickte. «Genau. Was trinken wir?»
Es kam ihr unglaublich dekadent vor, um fünf Uhr nachmittags in einer Bar zu sitzen und zu trinken. Wodka aus einem Minifläschchen, das von der letzten Flugreise noch in der Schreibtischschublade lag, war bisher das Höchste der Gefühle gewesen. Stirnrunzelnd blickte sie in die Getränkekarte, beriet sich mit Tony ernsthaft über die Vorzüge von Gin Martinis im Vergleich zu Wodka Martinis, zog diverse interessante Kreationen mit Godiva-Likör in Erwägung und entschied sich am Ende für einen schlichten alten Gin Tonic.
Nachdem die Getränkefrage geklärt war und sie sich mit der gebotenen Höflichkeit nach Tonys Aufenthalt in London, seinen Geschäften und seiner Unterkunft erkundigt hatte, stützte sie die Ellbogen auf den Tisch und sagte: «Das Problem ist nur, was ich danach anfangen soll.»
«Haben Sie vor, sich einen anderen Posten zu suchen?»
«Vielleicht», antwortete Clemmie. Früher oder später würde ihr nichts anderes übrigbleiben. Sie hatte nicht die Mittel, um sich längeres Nichtstun leisten zu können. Sie hatte gerade erst ihre Studienkredite abbezahlt, und die uncharmante Wohnung in der 52 nd Street verschlang jeden Monat Unsummen an Miete. Aber das konnte sie dem Marquis von Rivesdale nicht erzählen. «Im Augenblick genieße ich einfach meine wiedergefundene Freiheit.»
Tony legte die Getränkekarte weg und strich sich die jungenhafte Tolle aus dem Auge. «Im Rivesdale House ist immer ein Platz für Sie reserviert.»
Clemmie lachte. «Das hört sich an wie ein Werbespruch. Mit Bildern vom glücklichen Hauspersonal dazu könnten Sie die U-Bahn damit pflastern.»
«Das soll keine Werbung sein.» Clemmie wurde warm unter Tonys bewunderndem Blick. «Wir würden uns freuen, Sie bei uns zu haben, als Gast, meine ich.»
Sie fragte sich, wer zu dem ‹Wir› dazugehörte. Ein Geschäftspartner? Ein Partner anderer Art? «Danke», sagte sie lässig. «Wenn ich einmal wieder nach London komme, melde ich mich.»
«Tun Sie das», sagte er herzlich. «Schöne Beinahe-Cousinen laufen einem nicht alle Tage über den Weg.»
«Und ich dachte, sie rennen Ihnen die Türen ein», versetzte Clemmie.
Der Marquis, Tony, machte eine wegwerfende Geste. «Bei der Höhe unserer Bankschulden? Ganz sicher nicht.»
Clemmie probierte ein leises, gurrendes Lachen. Toll, was man sich alles erlauben konnte, wenn einen nichts mehr zu kümmern brauchte. Sie stellte sich flüchtig Pauls Gesicht vor, wenn sie ihm erzählen würde, dass sie
Weitere Kostenlose Bücher