Ashford Park
Miss Gillecote. Ich dachte, das wüssten sie.»
Addie schüttelte stumm den Kopf. Er irrte sich. Er musste sich irren. Nicht Bea, Bea, die so voller Leben war, so kreativ.
Und so unbekümmert.
«Wie war das Verhältnis zwischen Ihrer Cousine und ihrem Ehemann?»
Dass er die Vergangenheit benutzte, empörte sie. Mit einem Ruck hob sie den Kopf. «Was spielt das hier für eine Rolle?»
Der Superintendent klopfte mit dem Ende seines Bleistifts auf den Tisch. «Wir müssen jede Möglichkeit prüfen.» Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und maß sie mit einem langen forschenden Blick. «Wir können ein Verbrechen nicht ausschließen.»
«Verbrechen?», rief Addie. «Sie meinen Mord?» Sie brachte das Wort kaum über die Lippen. Die Vorstellung war zu absurd.
Der Superintendent sagte weder ja noch nein. «Wir wären nachlässig, wenn wir nicht jede Möglichkeit in Betracht zögen.»
Und was war mit der Möglichkeit, dass Bea noch am Leben war? Doch das konnte Addie nicht sagen. Sie sah seinen mitleidigen Blick. Er würde sie als hysterische Gans abtun. Er hatte sich schon entschieden. Bea war ermordet worden.
Mord. Das war etwas, was anderen zustieß, Leuten in Groschenromanen oder in der Zeitung, aber doch nicht Menschen, die man kannte. Es war alles ein fürchterlicher Irrtum. Anders konnte es gar nicht sein.
Mit schmalem Mund sagte sie: «Ich verstehe.»
Der Superintendent ordnete einen Stapel Papiere. «Ich weiß, das ist eine unangenehme Situation, Miss Gillecote.»
Unangenehm? Unangenehm war es, wenn man einen Sandfloh unter dem Zehennagel hatte oder die Kaffeetrockenmaschine nicht funktionierte. Das war unangenehm.
«Doch alles, was wir bisher haben, weist eher auf etwas Unerquickliches hin. Eine Frau ist verschwunden, wir haben einen Schal und einen Schuh, beides blutbefleckt. Sie wirken auf mich wie eine vernünftige Frau, Miss Gillecote. Wenn Sie die Situation als Außenstehende erleben würden, welche Schlüsse würden Sie ziehen?»
Sie wusste, dass er versuchte, sie zu manipulieren und mit seiner herablassenden Schmeichelei einzuwickeln, trotzdem konnte sie die Frage nicht einfach von sich weisen. Von außen gesehen wirkte tatsächlich alles ziemlich eindeutig, umso mehr, wenn man die Dinge einbezog, von denen er nichts wusste: Raouls Eifersuchtsanfälle, Vaughns merkwürdiges Verhalten, Fredericks Situation.
Sie konnte seine Stimme an jenem letzten Abend hören, sah wieder den seltsamen Ausdruck in seinem Gesicht, als sie ihn am Feuer zurückgelassen hatte. Die erhobenen Stimmen, das Geräusch von splitterndem Glas.
«Gibt es vielleicht jemanden, der Ihrer Cousine hätte schaden wollen?»
Die Frage kam Addies eigenen Überlegungen unangenehm nahe. «Alle haben Bea geliebt.» Nur manchmal nicht. «Sie war immer sehr begehrt.»
Der Superintendent kniff die Augen zusammen. «Monsieur de Fontaine hat uns berichtet», sagte er sehr betont, «dass Mrs. Desborough vorhatte, ihren Mann seinetwegen zu verlassen. Er behauptete, ihre gemeinsame Abreise sei just für diesen Abend geplant gewesen.»
«So ein Unsinn.» Addies Überraschung war nicht geheuchelt. «Das ist ausgeschlossen. Das hätte sie …»
Mir gesagt
hätte sie beinahe gerufen. Aber hätte Bea das wirklich getan? Sie war in der letzten Zeit so distanziert gewesen, hatte Geheimnisse angedeutet, dann wieder merkwürdig zwischen kühler Zurückhaltung und plötzlichen Anfällen von Zuneigung und Zärtlichkeit geschwankt, bald über alles gespottet, bald in wehmütigem
Weißt-du-noch?
geschwelgt.
«Ich wiederhole nur das, was Monsieur de Fontaine uns berichtet hat.» Der Superintendent war sachlich, doch er ließ Addie keinen Moment aus den Augen. «Sie hat Ihnen nichts davon gesagt?»
Addie bemühte sich, ihre fünf Sinne beisammenzuhalten. «Ich weiß, dass Monsieur de Fontaine in meine Cousine verliebt war, aber niemals hätte sie seinetwegen ihren Mann verlassen. Sie hat zwei Töchter», fügte sie hinzu.
O Gott, wenn Bea wirklich tot war, wie sollten sie das Marjorie und Anna beibringen? Wie sollten sie ihnen sagen, dass ihre Mutter nie wiederkommen würde? Sie versuchte, sich einzureden, dass das niemals passieren würde, doch die Zweifel wurden immer stärker. In ihrer Phantasie hörte sie die Hyänen heulen.
«Wusste Mr. Desborough von Monsieur de Fontaines Gefühlen für seine Frau?»
Diese neue Wendung des Gesprächs gefiel Addie gar nicht. «Wir wussten alle davon», erklärte sie bestimmt. «Man konnte es gar nicht
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