Ashton, der Heißbluetige
knotige Finger. Ihr Griff um Rhiannons Handgelenke festigte sich. Eine Stimme mit fremdartigem Akzent erklang aus dem warmen gelben Licht. „Du suchst einen anderen Merrick, alte Hexe. Nicht Lord Carr. “ Sie hätte bei einem Engländer leben sollen. Er hätte ihr Vormund sein sollen. Sie erinnerte sich daran, dass die alte Frau das gesagt hatte. Sie hatte es vergessen. Aber in jenen Tagen war so viel so rasch hintereinander geschehen, dass sie vieles einfach vergessen hatte. Die Flucht, die Kälte, die Furcht und die Verwirrung, die Tage - Wochen? - waren zu einem einzigen, scheinbar endlosen Albtraum verschwommen, aus dem sie erst bei ihrer Ankunft in Fair Badden erwacht war. Sogar wenn sie sich Mühe gab, sich zu erinnern, gelang es ihr nicht. Alles, was sie heraufbeschwören konnte, waren Eindrücke, einzelne Bilder, aber keine zusammenhängende Erinnerung.
Rhiannon sah den in schäbiger Eleganz gekleideten Mann an. Er war bestimmt zu jung . . . „Seid Ihr der Earl of Carr?“ Einmal mehr erschien das wunderbare Lächeln auf seinen dunklen Zügen. „Nein. Lord Carr ist mein Vater. Und Ihr habt völlig Recht, wenn Ihr ihn für einen pflichtvergessenen Vormund haltet. Er ist es.“
Sie wusste diese leicht amüsierte Feststellung nicht recht zu deuten. Sein Auftreten, sein Benehmen glich in nichts dem der jungen Männer von Fair Badden. „Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz.“
„Ich auch nicht, und dabei hatte ich gedacht, ich hätte es“,
bemerkte er halblaut und zog eine Augenbraue hoch. „Ich denke, Carr sähe es gerne, wenn Ihr glaubtet, Ihr wäret ihm in den vergangenen Jahren einfach . . . entfallen.“
„Ist es denn so gewesen?“
Ash Merricks rätselhaftes Lächeln erschien erneut. „Ich bezweifle, dass meinem Vater jemals auch nur die Existenz eines Zahnstochers entfallen ist.“
Jede seiner Antworten warf immer nur mehr Fragen auf, und mit jeder Äußerung Ash Merricks steigerte sich ihr Unbehagen. Ihr war einmal mehr wieder zu Mute, als stünde sie vor der Tür, die in jenes verbotene, einladende Haus führte. Sie fürchtete, über die Schwelle zu treten. Es würde einen Preis kosten, den sie nicht nennen konnte und von dem sie bezweifelte, dass sie ihn sich leisten konnte. Und doch fühlte sie sich dazu hingezogen.
„Was wollt Ihr, Sir?“
„Ich? Nichts. Ich bin nur hier, um Euch nach Wanton's Blush, seinem Besitz, zu bringen, weil er es so wünscht, Rhiannon Russell.“
„Warum?“ Die Katze war des Belauerns müde geworden und spielte nun mit der Maus.
„Eure Mutter war eine Cousine seiner Ehefrau“, erklärte er. „Ihr seid mein Cousin?“ fragte sie. Sie konnte sich nicht vorstellen, mit diesem . . . geheimnisvollen schwarzhaarigen Mann verwandt zu sein.
„O nein. Nein. Meine Mutter darf die Ehre für sich beanspruchen, die erste Lady Carr gewesen zu sein. Eure Mutter war mit seiner zweiten Gattin verwandt. . . oder war es doch seine dritte? Carr hat die unglückliche Angewohnheit, seine Ehefrauen vorzeitig ins Grab sinken zu sehen. “
„Ich verstehe.“ Das tat sie nicht. Mit seiner Erklärung war die Erschöpfung auf seine Züge zurückgekehrt, und ihr Mitgefühl erwachte. „Ihr habt eine weite Reise hinter Euch, Sir. Möchtet Ihr etwas trinken? Oder essen?“
Bei ihrer Frage sah er auf, die Stirn überrascht gerunzelt. „Nein“, erwiderte er. „Danke. Wir haben etwas zu besprechen, Ihr und ich. Vielleicht später.“
„Ich begreife nur nicht“, sagte Rhiannon, „warum Euer Vater Euch gerade jetzt, nach all den Jahren, geschickt hat, mich zu finden.“
„Was für ein unverständiges junges Ding Ihr seid“, spottete Ash Merrick gutmütig. „Es wird von Euch doch nicht erwar-tet, dass Ihr Fragen stellt. Ihr solltet vor Freude in Ohnmacht fallen, dass Carr sich herabgelassen hat, Euch seinen Schutz anzubieten . . . oder was er darunter versteht. “
Sie musterte ihn verblüfft, enthielt sich aber eines Kommentars.
„Was?“ fragte er, als sie schwieg. „Keine Ohnmacht? Er wird enttäuscht sein. Aber um Eure Frage zu beantworten, Miss Russell, Carr sendet Euch die Nachricht, dass er nun, da er Euch gefunden hat, bereit ist - man beachte, meine Liebe, er geht nicht so weit, den Wunsch zu äußern, sondern nur seine Bereitschaft zu erklären -, seiner Verantwortung für Euch nachzukommen. “
Ihre Miene war ernst, während sie ihn angespannt betrachtete. Seine Worte waren zuvorkommend, und auch wenn er sich spöttisch gab, tat er das doch auf eine
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