Ashton, der Heißbluetige
unpersönliche Art, so als ob der Witz, den er sah, mehr auf seine Kosten als auf ihre ging. „Und was sagt Ihr, Sir?“ erkundigte sie sich vorsichtig. „Miss Russell, eine Dame bringt einen Gentleman niemals in die unangenehme Lage, ein Urteil abgeben zu müssen“, versetzte er. In seinem ironischen Tonfall schwang Freundlichkeit mit - oder vielleicht auch Mitleid. „Und das ganz besonders über die Beweggründe seines Erzeugers. Ich gebe niemals Urteile ab, Miss Russell, darum liege ich auch niemals falsch. Wenn es nach mir ginge, wäre ich nicht hergekommen. Aber ich bin lediglich der Stellvertreter meines Vaters. Ich hinterfrage seine Anweisungen nicht, ich folge ihnen.“
Er klang angespannt, kühl. Es war, als hätte er sich entschieden, sie nicht zu mögen, bevor sie einander überhaupt getroffen hatten. Sie konnte sich keinen Grund denken, warum er das hätte tun sollen - außer er nahm ihr das Interesse seines Vaters übel. Vielleicht ist er auch ein Verschwender und seine Börse leer, überlegte sie, während sie seine schäbige Erscheinung musterte. Möglicherweise fürchtete er, sein Vater könnte sich seinem neu entdeckten Mündel gegenüber zu großzügig zeigen.
Diese Idee erklärte Ash Merricks unterschwellige Widersprüchlichkeit und ließ ihre Ablehnung ihm gegenüber dahinschmelzen. Sie konnte ihn beruhigen. Sie wollte weder seines Vaters Schutz noch seine Vormundschaft oder seine Großzügigkeit. Und ganz gewiss bedurfte sie ihrer nicht. „Was habt Ihr mit Eurem Gesicht angestellt?“
Seine Frage traf sie unvorbereitet. Er war näher gekommen, während sie ihren Gedanken nachhing. Er umfasste ihr Kinn und drehte ihr Gesicht so, dass die Strahlen der Nachmittagssonne darauf fielen.
„Mit meinem Gesicht?“ Wollte er ihr etwa auch einen Fleck von der Wange reiben? Sie verharrte reglos, verlegen und beunruhigt und sich gar nicht sicher, dass es nicht ein ganz klein wenig aufregend wäre, von diesem faszinierend männlichen Wesen so eingehend gemustert zu werden, geschweige denn von ihm einen so vertraulichen Dienst erwiesen zu bekommen.
Bei diesem abwegigen Gedanken stieg ihr die Röte in die Wangen. „Vergebt mir, Sir. Wir sind eben erst von der Jagd heimgekehrt, und ich hatte noch nicht die Gelegen. .."
„Ihr habt diese Wunde bei der Jagd erhalten?“ fragte er ungläubig, hob seine andere Hand und fuhr mit einem Finger zart über ihre Wange.
Unter seiner Berührung breitete sich eine seltsame Hitze auf ihrer Haut aus. Seine Fingerspitzen waren rau, die Knöchel groß und seine Handgelenke mit alten Narben übersät. Kein Gentleman hatte Hände wie diese. Noch nicht einmal ein Gentleman aus London. Ganz besonders kein Gentleman aus London. Wer war Ash Merrick?
Ihr Blick glitt über sein Gesicht, während er stirnrunzelnd die Stelle auf ihrer Wange betrachtete. Die Wimpern, die seine dunklen Augen säumten, waren so schwarz wie seine Haare, dicht und gebogen und lang wie die eines Mädchens, und das war das einzig Weiche, Weibliche an ihm. So aus der Nähe gesehen, unterstrich sein modisch blasser Londoner Teint sein gutes Aussehen sogar.
„Habt Ihr?“ Er ließ ihr Kinn los.
Ach ja. Er hatte sich nach ihrer Wunde erkundigt.
„Nein“, antwortete sie, nicht länger besorgt wegen der Worte, die sie sprachen, sondern vielmehr wegen der anderen Sache, die sich zwischen ihnen abspielte, wegen dieses merkwürdigen Gedankenaustauschs, der ohne Zutun ihres Verstandes stattfand und sich dem Einfluss ihres Willens entzog.
„Und wie ist es passiert? Man sollte meinen, einen solchen Vorzug würde man hüten wie einen Schatz.“
Sie begriff nicht. Ihre Haut war nicht von Pockennarben gezeichnet und nicht zu stark von der Sonne gebräunt, aber niemand hatte sie jemals sonderlich gerühmt. Er sah ihr in die Augen, und sein gewandtes Lächeln wurde schwächer, dann verschwand es ganz.
Zum ersten Mal, seit sie die Bibliothek betreten hatte, schien Ash Merrick nicht mehr ganz Herr der Lage zu sein. Er wich mit leicht verwirrter Miene zurück, wie ein Junge, der eine geheime Schublade aufgezogen und etwas darin entdeckt hatte, mit dem er nicht gerechnet hatte und sich nicht sicher war, dass es ihm gefiel.
„Ihr wolltet etwas sagen?“ Sein Tonfall war glatt.
„Wegelagerer“, antwortete sie schwach. „Wir waren auf dem Heimweg von Nachbarn, als wir von einem Schurken angehalten wurden. Er feuerte seine Pistolen auf uns ab, als unser Kutscher die Pferde antrieb. Eine seiner Kugeln
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