Ashton, der Heißbluetige
Rhiannon einen Anwalt vorgestellt hätte.
In ihre Überraschung mischte sich ein wenig Pikiertheit. Ein Gentleman - besonders ein Gentleman aus London -, der die Fraisers besuchen wollte, hätte im „The Ploughman's Inn“ Halt machen und die Spuren der Reise an seiner Kleidung beseitigen sollen. Aber dann zauberte die ihr angeborene Ehrlichkeit doch ein Lächeln auf ihren großzügigen Mund; Eine Dame, die einen Herrn empfing, hätte sich die Zeit nehmen und die Spuren der Jagd an ihrer Kleidung beseitigen sollen.
Er drehte sich langsam zu ihr um, als wollte er sie nicht erschrecken, und sie erkannte, dass er ihr absichtlich Zeit gegeben hatte, ihn zu mustern. Er sah müde und erschöpft aus, seine Züge waren ein wenig hager, die Augen pechschwarz, die Brauen geschwungen wie dunkle Flügel, und unter seinen Augen lagen tiefe Schatten. Er trug einen altmodischen, stark gestutzten Bart, und seine Haut sah sehr blass aus.
Kaum wahrnehmbare Gefühle legten sich flüchtig über seine feinen Züge.
„Rhiannon Russell, nehme ich an?“ Seine Stimme war ein wohlklingender Bariton. Er machte sich nicht die Mühe, sich zu erheben, und seine Pose blieb unnatürlich still, wie die einer Katze, die vor einem Mauseloch lauert, wachsam, aber nicht hungrig - noch nicht.
„Ja.“ Sie wurde sich ihrer ihr lose über den Rücken hängenden Haare merkwürdig bewusst, des Schweißes und des Schmutzes von ihren Lederhandschuhen, der sich unter ihren kurzen Fingernägeln gesammelt hatte, und der Schlammspritzer auf ihrem flaschengrünen Rock.
Er stand auf. Er war hoch gewachsen und schlank, seine Schultern waren sehr breit und gerade. Sein Mund wirkte freundlich, der Ausdruck seiner Augen jedoch nicht. Sein Hals sah kräftig aus. Die zerrissene Spitze an seinem Handgelenk hatte sich in dem goldgefassten Stein des Ringes an seinem kleinen Finger verfangen. Er schnipste sie fort.
Sogar ohne den zusätzlichen Reiz, aus London zu stammen, fände ihn die Damenwelt von Fair Badden attraktiv, dachte Rhiannon. Da er aus der großen, sagenumwobenen Stadt kam, würde man ihn unwiderstehlich finden. Tatsächlich könnte sie einiges an seiner kontrastreichen Schönheit entdecken, das ihr gefallen würde . . . wenn sie ihr Herz nicht schon an einen goldhaarigen jungen Mann verloren hätte.
„Ihr seid keine Engländerin.“
„Doch. Zu einem Viertel“, erwiderte sie. „Von der Seite meines Vaters.“
„Das hätte ich nicht vermutet.“ Nach dieser Äußerung verfiel er wieder in Schweigen und musterte sie weiter.
Sie gab sich Mühe, sich die Regeln der Höflichkeit ins Gedächtnis zu rufen, die Edith ihr eingetrichtert hatte, aber keine von ihnen traf darauf zu, einen fremden, schäbig-elegant gekleideten jungen Mann allein in der Bibliothek ihres Pflegevaters zu empfangen.
„Ich fürchte, Ihr seid mir gegenüber im Vorteil“, entschloss sie sich schließlich zu sagen.
„Wäre ich nur so glücklich, dasselbe von all meinen Bekannten behaupten zu können“, entgegnete er darauf, dann fragte er: „Hat Euch Mrs. Fraiser denn nicht meinen Namen genannt?“
„Nein“, antwortete Rhiannon. „Mrs. Fraiser kann sich Namen einfach nicht merken, mit Ausnahme derer von skrupellosen Händlern. Sie hat mir nur gesagt, dass Ihr aus London gekommen wärt, um mich zu treffen, und dass Ihr Neuigkeiten, meine Zukunft betreffend, hättet.“
„Ich bin Ash Merrick.“ Er machte eine elegante Verbeugung, und seine Wachsamkeit war ihm jetzt deutlich anzumerken, gerade so, als ob sein Name allein ihr etwas verraten sollte, und als er bemerkte, dass das nicht der Fall war, fuhr er fort: „Der Name Merrick ist Euch nicht geläufig?“
Sie durchforstete ihr Gedächtnis, fand aber nichts, das eine Erinnerung auslöste. „Nein“, sagte sie. „Sollte er das?“
Sein Mund verzog sich zu einem breiten Lächeln. Es war ein schönes Lächeln, einnehmend und charmant, aber es erreichte seine Augen nicht. „Vielleicht“, erwiderte er, „da es der Name Eures Vormundes ist.“
3. Kapitel
„Ich habe keinen Vormund“, sagte Rhiannon und verbesserte sich dann mit ihrer üblichen Gründlichkeit: „Ich meine, nicht offiziell. Wenigstens keinen, von dem ich wüsste . . .“
Ihre Stimme erstarb, als ihr eine vage Erinnerung kam. Sie war vielleicht acht Jahre alt, stand auf der Straße in einer fremden Stadt und schaute blinzelnd auf eine geöffnete Tür, aus der verlockend warmes Licht fiel. Die alte Frau, die sie hergebracht hatte, hatte kalte,
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