Asperger - Leben in zwei Welten
mir ein Leben als Autistin in einem so vielseitigen Studium wie der Humanmedizin (Theorie, Praxis, verschiedene Standorte, Praktika an verschiedenen Kliniken innerhalb und auÃerhalb Deutschlands, Aufenthalt in einem Entwicklungsland, Promotion in der Forschung und vieles andere mehr) kaummöglich gewesen. Im Nachhinein betrachtet, wurde mir fast immer die Möglichkeit gegeben, Fragen zu stellen und auch mehrfach um Antworten zu bitten. Sogar meine zwischenzeitlichen »Ausraster« und predigtartigen Monologe wurden mir anscheinend nicht allzu übel genommen.
Zu Tumorpatienten, die von auÃen oft als schwierig angesehen werden, habe ich einen besonderen Draht.
Insgesamt machte mir das Studium â besonders der fachliche Teil â sehr viel SpaÃ, und ich finde es noch heute sehr schade, dass man sich innerhalb des groÃen Gebietes der Medizin nur sehr kleine Teilbereiche detailliert aneignen kann. Am Ende entschied ich mich für die Innere Medizin, denn dies schien mir trotz der Spezialisierung das breiteste Fachgebiet zu sein. Die Möglichkeit des Zusammensetzens einer Erkrankung aus vielen Puzzleteilen (Anamnese, körperliche Untersuchung, technische Methoden und viele indirekte Krankheitszeichen) finde ich noch heute sehr spannend. Ich glaube, dass genau dies mein Spezialgebiet innerhalb meiner autistischen Wahrnehmung ist. All der Stress rund um Schule und Studium hat sich aus heutiger Sicht gelohnt für das Ziel, meinen Beruf, den ich als Berufung empfinde, ausüben zu dürfen.
Bereits vor Beginn meines Studiums (im Pflegepraktikum) »landete« ich in der Versorgung von Tumorpatienten. Bis heute bin ich hauptsächlich mit dieser Patientengruppe und diesen Krankheitsbildern beschäftigt und bin mir mittlerweile sicher, dass das kein Zufall ist. Tumorpatienten haben aus meiner Sicht sehr viele Probleme, die auch autistischen Menschen bekannt sind. Dies wurde mir nach meiner Diagnose plötzlich klar und erklärte meinen Draht zu diesen von auÃen oft als schwierig angesehenen Patienten. So besteht während der Chemotherapie häufig eine veränderte und intensivere Wahrnehmung von Geruch und Geschmack. Viele Autisten bemerken genau dies auch bei sich selbst als besondere Fähigkeit, manchmal aber auch als Beeinträchtigung. Seltsamerweise beschreibe ich den »Geschmack« mancher Chemotherapeutika ebenso wie meine Patienten. Diese sind oft zunächst verwundert, dass ich das wahrnehme â im Gegensatz zu nicht autistischen Kollegen. Somit kann ich die negativen Empfindungen, die meine Patienten unter der Therapie haben, zumindest ein wenig nachfühlen. Oft ergeben sich aus solchen Situationen sehr bereichernde Gespräche für beide Seiten, denn es gibt eine Basis, die nur wenige Menschen teilen.
Mit dem Start ins Berufsleben erfüllte sich einerseits mein Traum, Ãrztin sein zu dürfen, andererseits kam ich aber auch in der Realität der Leistungsgesellschaft an. Somit kann ich für den Beruf nur beide Seiten darstellen: die positive, die meinem Leben mit Behinderung einen Sinn verleiht, und die negative, die durch die Ansprüche des Alltags für mich kaum zu leistenden Inhalte.
Einen passenden Arbeitsplatz finden
Insgesamt denke ich, dass es den passenden Beruf für Autisten nicht gibt. Jeder von uns ist, wie jeder andere Mensch auch, ein Individuum mit verschiedenen Begabungen und Interessen. Somit halte ich es für wesentlich, etwas zu verfolgen, was einen interessiert. Es kann durchaus problematisch sein, das mit einem konventionellen Beruf in Einklang zu bringen â aber mit Kompromissen sollte dies in vielen Fällen möglich sein. Jeder muss im Rahmen seiner Ausbildung und seines Berufes auch schwierige und ihm nicht immer angenehme Inhalte absolvieren. Vielleicht sollte man das als Herausforderung annehmen. Ich kenne viele Autisten, die zeigen, dass es in fast allen Berufsfeldern möglich sein kann, erfolgreich tätig zu werden (z. B. Fahrradhändler, Lehrer an Gymnasium und Berufsschule, Forscher im medizinischen Labor, IT-Fachkraft, Bäcker, Geologe, Jurist, Ingenieur, Bibliothekar, Mathematiker, Pharmakologe, Dolmetscher). Wenn man seine Interessensgebiete kennt, ist vermutlich die Basis gelegt. Im Laufe des Ausbildungs- und Berufslebens kommt es aus meiner Sicht viel mehr auf die Rahmenbedingungen als auf den fachlichen Arbeitsinhalt an. Ich halte die meisten Autisten für fachlich gut
Weitere Kostenlose Bücher