Assassino
miteinander unterhalten können. Seine Tränen sind versiegt, und während ich mit kaltem Wasser getränkte Lappen um seine schmerzenden Füße wickle, sprudelt es aus ihm heraus, was sich im Laufe des Tages in seinem Kopf angesammelt hat.
»Dieser Dai ist ein böser Mann, Ilyas.«
»Er ist ein Gelehrter und ein Priester, Aschkan. Was soll daran böse sein?«
»Er reitet bequem auf seinem Esel und wir laufen uns die Füße wund.«
»Er ist ein alter Mann. Wir sind jung und unsere Fußsohlen werden sich daran gewöhnen.«
»Er spricht nicht mit uns, so als seien wir gar nicht anwesend.«
»Der Dai muss über sehr viel wichtigere Dinge nachdenken,als sich mit zwei Jungen aus einem entlegenen Dorf zu unterhalten.«
»Wir werden unser Leben als seine Sklaven verbringen!«
»Nein, er geleitet uns nur zu einer Schule, in der wir viele Dinge lernen werden, bis wir vielleicht eines Tages so weise sind wie er.«
»Ich will einfach nur nach Hause!«
»Das will ich auch, Aschkan, das will ich auch. Wenn die Schule vorbei ist, wirst du in unser Dorf zurückkehren können.«
Glaube ich das, was ich ihm erzähle? Oder rede ich mir das nur ein, um gegen meine eigene Verzweiflung anzugehen? Ich weiß es nicht. Auch ich habe den ganzen Tag über nachgedacht. Und mit jedem Schritt ist meine Gewissheit stärker geworden, dass ich die Heimat niemals wiedersehen werde. Wie oft habe ich davon geträumt, durch die Welt zu reisen, doch jetzt habe ich keinen sehnlicheren Wunsch als den, nach Hause zurückzukehren.
Aber das alles kann ich Aschkan nicht sagen. Er ist noch zu klein, und meine Aufgabe ist es, ihm dabei zu helfen, sein Schicksal anzunehmen. Und das hilft mir selbst dabei, mein Los zu akzeptieren.
Als wir uns am nächsten Morgen am Brunnen waschen, kommen zwei weitere Jungen auf den Hof, deren Gesichter ebenso unglücklich aussehen wie unsere. Sie sind zehn und elf Jahre alt, und der Dai hat sie ausgewählt, als er auf seiner Reise zu uns durch dieses Dorf gekommen ist. Sie heißen Navid und Parham, und beide sind ebenfalls untröstlich, ihre Heimat verlassen zu müssen.
Zu viert setzen wir den Weg fort. In den nächsten Tagen wächst unsere kleine Gruppe auf sieben Schüler an. Der Dai hat unterwegs ein altes Maultier gekauft, das unsere Habseligkeiten und Vorräte trägt.
Die Märsche sind nach wie vor anstrengend, aber wir haben genug Energie, um abends noch miteinander zu spielen oder uns bis spät in den Abend zu unterhalten. Auch tagsüber laufen wir nicht mehr stumm neben dem Dai her, sondern formen immer neue Grüppchen. Wir reden, singen und necken uns gegenseitig und trotzen so den Strapazen des Weges. Der Alte hat nichts dagegen; er lässt uns machen, solange wir ihm nur folgen.
Bei unserer letzten Rast vor der Stadt Merv ruft er uns zu sich und erklärt uns, warum wir die Stadt nicht betreten werden. »Ein Ort ist wie eine Frau. Ist sie sittsam und bescheiden, so ist sie eine Zierde; ist sie hingegen grell und laut, so will keiner etwas mit ihr zu schaffen haben. Eine Stadt ist wie eine dieser grellen Frauen: lärmend, unzüchtig und voller Laster. Deshalb suche ich meine Schüler auch in den abgelegenen Dörfern, die still und sittsam ihr einfaches Leben führen. Und aus diesem Grund auch rate ich euch, die Städte zu meiden, denn sie verwirren euch die Sinne und verführen euch zur Sünde.«
Er blickt in die Runde. Wir alle starren ihn gebannt an, und niemand wagt, ein Wort zu sagen. Ich beginne zu verstehen, warum er uns ausgewählt hat. Wir sind alle Jungen vom Land, die noch nie eine Stadt gesehen haben. Zugleich aber regen sich in mir erste Anzeichen einer Begierde, diese verbotenen Wesen mit eigenen Augen zu sehen. Sofort unterdrücke ichden Gedanken, aber er setzt sich fest wie ein feiner Splitter unter der Haut oder ein Staubkorn im Auge. Sosehr man auch drückt und reibt, man muss warten, bis sie von selbst herausgewachsen sind.
Ich weiche dem strengen Blick des Dais aus, aber er ist bereits wieder mit sich selbst beschäftigt und überlässt uns unseren abendlichen Aktivitäten.
So ziehen wir um Merv herum und weiter in Richtung Alamut. Irgendwie hat es sich ergeben, dass die anderen Navid und mich zu Anführern unserer kleinen Gruppe erkoren haben. Immer, wenn es etwas mit dem Alten zu besprechen gibt, wird einem von uns diese Aufgabe übertragen. Oft sind es Kleinigkeiten: durchgelaufene Sandalen, zu kurze Pausen, zu wenig Essen. Der Dai hört sich die Wünsche an und erfüllt sie in den
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