Assassino
studieren die Wissenschaften und ertüchtigen ihre Körper.«
Der dicke Farzin schlürft laut seinen Tee und versucht gleichzeitig zu nicken, wobei ihm die Hälfte der Flüssigkeit über die Weste fließt. »Der Dai hat mich gefragt, ob es nicht auch hier begabte junge Menschen gibt, die es wert sind, gefördert zu werden. Und da habe ich gleich an Ilyas gedacht.«
Schlagartig begreife ich, wie der Hase läuft. Der Ortsvorsteher hat endlich eine Möglichkeit gefunden, ein für alle Mal Rache zu nehmen für die Erniedrigungen, als deren Urheber er mich ausgemacht hat, und das auch noch als Großmütigkeit zu tarnen. Verzweifelt schaue ich zu meinem Onkel und flehe ihn mit meinen Blicken an, dem Vorschlag nicht zuzustimmen. Doch Jamshed bekommt davon nichts mit.
»Es ist eine große Ehre für uns und Ilyas, dass Ihr ihn in Eure Obhut nehmen wollt«, strahlt er über das ganze Gesicht. Lediglich Guls Miene ist ebenso betroffen, wie es meine sein muss. Aber sie hütet sich, etwas zu sagen.
»Du bist also einverstanden?«, fragt Farzin.
»Wer wäre das nicht? Ich lasse Ilyas nur ungern ziehen, denn er soll dereinst den Chan von mir übernehmen. Aber bis dahin wird er sicherlich zurückgekehrt sein.«
»Das ist nicht gesagt«, erwidert der Dai. »Viele unserer Schüler entscheiden sich für ein anderes Lebensziel, als Prediger oder als Vorkämpfer des Glaubens. Du solltest besser nicht erwarten, den Jungen wiederzusehen.«
»Oh.« Die Enden von Jamsheds Schnurrbart senken sich enttäuscht.
Jetzt sag ihm schon, dass du mich dann nicht gehen lässt!
, beschwöre ich ihn in Gedanken. Aber mein Onkel tut mir den Gefallen nicht.
»Nun, dann werde ich mich wohl nach einem anderen Gehilfen umsehen müssen«, sagt er, gar nicht mehr so frohgemut wie noch vor einem Moment. Aber Jamshed hat in seinem Leben gelernt, dass es sich nicht lohnt, der Geistlichkeit und der Obrigkeit zu widersprechen, auch wenn es sich bei Letzterer nur um eine Witzfigur wie den dicken Farzin handelt.
»Das wäre dann abgemacht.« Der Ortsvorsteher erhebt sich. »Der Dai wird uns morgen in der Frühe verlassen und den Jungen direkt mitnehmen. Seht zu, dass dann alles bereit ist.«
Auch der Alte steht auf. Er verneigt sich vor Jamshed. »Hab vielen Dank. Du hast die richtige Entscheidung getroffen.« An der Tür bleibt er noch einmal stehen. »Wir müssen noch eine andere Familie besuchen, aber ich werde schon bald zurück sein und mein Nachtlager einnehmen. Vielleicht könnt ihr mir noch ein Nachtmahl bereitstellen?«
»Natürlich, ehrwürdiger Dai«, sagt Jamshed, der ebenfalls aufgesprungen ist. Aber der Alte hat seine Antwort nicht mehr abgewartet und ist Farzin zur Tür hinaus gefolgt.
Einen Moment lang rührt sich keiner von uns. Es sieht fast komisch aus, wie eine Skulptur. Ich hocke, in mich zusammengesunken, am Ende des Tisches, mein Onkel steht davor, den Arm ausgestreckt, so als wolle er den Dai an einem unsichtbaren Faden zurückholen, und Gul neben dem Ofen, die Hände regungslos in den Haaren.
Dann bewegen wir uns alle gleichzeitig.
Ich springe auf, stürze auf meinen Onkel zu. »Ich will nicht mit diesem Mann mitgehen!«, heule ich auf.
Jamshed lässt den Arm sinken und legt mir die Hand auf die Schulter. »Was haben wir für eine Wahl?«, sagt er mit dumpfer Stimme. »Wir sind nur einfache Leute, und wenn es stimmt, was der Dai sagt, dann wirst du eine Ausbildung bekommen wie sonst nur die Söhne von großen Herrschaften.«
Die Tante rauft sich das Haar und stürzt auf mich zu. Sie schließt mich in die Arme und bricht in Tränen aus. »Der arme Junge hat schon einmal sein Elternhaus verloren!«, flehtsie ihren Mann an. »Wie kannst du zulassen, dass es noch ein zweites Mal geschieht?«
Aber Jamshed antwortet nicht. Er ist kein besonders mutiger Mann, das habe ich schon vor langer Zeit bemerkt, und vielleicht glaubt er wirklich, die für mich beste Entscheidung zu treffen.
So stehen wir da, der Mann, die Frau, der Junge, ineinander verschlungen und doch jeder von uns für sich allein. Bis mein Onkel schließlich die Initiative ergreift.
»Genug gejammert!«, ruft er. »Frau, bereite für Ilyas eine ordentliche Wegzehrung vor! Und du, Junge, lauf auf dein Zimmer und pack eine Tasche mit deinen Sachen!«
Sanft zieht er Gul von mir weg. »Ich frage mich, wo Farzin mit dem Dai wohl noch hingegangen ist«, murmelt er leise vor sich hin.
Die Antwort erhalten wir am nächsten Morgen.
2.
Bei den ersten Sonnenstrahlen rüttelt
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