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Assassino

Assassino

Titel: Assassino Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerd Ruebenstrunk
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Gul mich wach. »Der Dai ist bereits aufgestanden«, flüstert sie. »Und Aschkan ist auch schon da.«
    »Aschkan?« Ich reibe mir den Schlaf aus den Augen. »Was macht Aschkan denn hier?«
    »Er wird dich begleiten«, erwidert meine Tante.
    Ich glaube, nicht richtig verstanden zu haben. Mein Kopf ist noch schwer, denn ich habe fast die ganze Nacht wach gelegen. Also frage ich sie noch einmal.
    »Farzin hat Aschkans Eltern überredet, ihm außer dir auch den Kleinen mitzugeben.«
    Diese »Überredung« habe ich gestern selbst erlebt. In unserer ärmlichen Madrasa hat sich Aschkan als ein hellerer Kopf als so mancher ältere Schüler erwiesen. Aber er ist noch so klein! Wie kann der Dai ihn seinen Eltern entreißen?
    Ich richte mich auf und rolle meine Decke zusammen. Dann nehme ich meine Tasche und folge Gul nach unten, wo der Alte bereits am Tisch sitzt und frühstückt. Ich grüße ihn mit einer Verbeugung und gehe dann in den Hof. Aschkan hockt zusammengesunken im Schatten der Hauswand, den Kopf tief zwischen den Knien versenkt. Er blickt auf, als ich mich neben ihn setze. Seine Augen sind voller Tränen.
    Ich lege meinen Arm um seine Schultern und frage mich, wo seine Eltern sind. Warum haben sie ihren Sohn nicht herbegleitet, um ihn zu verabschieden?
    Nach einer Weile hört Aschkan zu weinen auf und ich gehe zum Brunnen und wasche mir Gesicht und Hände. Dann hole ich Brot aus dem Haus und teile es mir mit dem Kleinen. Kurz darauf treten Jamshed und Gul mit dem Dai heraus. Mein Onkel holt den Esel des Alten aus dem Stall. Meine Tante hat ein Bündel mit meinen wenigen Habseligkeiten gepackt, das sie mir gemeinsam mit einem Sack voller Lebensmittel in die Hände drückt. Dann umarmt sie mich.
    »Denk daran, du kannst jederzeit zu uns zurückkehren«, flüstert sie mir ins Ohr.
    Jamshed kommt mit dem Esel zurück. Er schlägt mir auf die Schulter. »Mach deinem Dorf Ehre, Junge«, sagt er. Dann gibt der Dai das Zeichen zum Aufbruch.
    Wir verlassen den Chan und ziehen die Dorfstraße entlang in Richtung Merv. Ich werfe einen letzten Blick zurück auf das Haus, das mir so viele Jahre eine Heimat gewesen ist. Zum zweiten Mal werde ich aus meiner Familie gerissen, diesmal aber nicht durch die Macht des Schicksals, sondern durch die Arglist eines Menschen, und ich schwöre, dass ich eines Tages zurückkommen und mich an Farzin rächen werde.
    Der Dai reitet auf seinem Esel. Unsere Taschen hat er hinter sich über den zottigen Rücken des Tieres geworfen und wir gehen neben ihm her. Einige der Dorfbewohner sind vor ihre Häuser getreten und sehen wortlos zu, wie wir vorbeiziehen.
    Am Brunnen haben sich unsere Freunde versammelt, um uns zu verabschieden. Sie laufen ein Stück des Weges mit uns mit und versuchen, uns aufzumuntern. Doch ihre Bemühungen bewirken eher das Gegenteil, vor allem bei Aschkan, der erneut in Tränen ausbricht. Auf der Anhöhe, hinter der der Weg verschwindet, machen sie schließlich kehrt. Nur ihre Stimmen klingen noch lange in meinem Kopf nach.
    Viele Stunden lang folgen wir der Straße und während der ganzen Zeit sagt keiner von uns ein Wort. Dai Ibrahim sitzt schweigend auf seinem Esel, und Aschkan und ich sind zu sehr mit unserer Trauer beschäftigt, um zu reden. Meine Beine bewegen sich wie von selbst, so als seien sie nicht Teil meines Körpers, sondern zwei Maschinen, deren einzige Aufgabe es ist, unermüdlich einen Fuß vor den anderen zu setzen.
    Irgendwann machen wir im Schatten von ein paar Büschen Rast. Der Alte gibt uns zu essen und zu trinken und anschließend dürfen wir uns eine halbe Stunde ausruhen. Mir fallen vor Erschöpfung sofort die Augen zu, und als mich die Stimmedes Dais weckt, möchte ich am liebsten liegen bleiben. Meine Beine sind schwer wie Blei, und es dauert eine Zeit, bis ich wieder in meinen Marschrhythmus gefunden habe.
    Unterwegs begegnen wir nur wenigen Reisenden. Manche von ihnen verneigen sich ehrfürchtig vor dem Dai, andere drehen den Kopf weg, so als fürchteten sie sich vor seinem Blick, und wieder andere betrachten ihn mit einem spöttischen Gesichtsausdruck. Der Alte nimmt das alles mit unbewegter Miene zur Kenntnis. Gegen Abend erreichen wir das nächste Dorf, in dessen Chan wir einkehren. Während unser neuer Gebieter das Abendessen im Gasthof einnimmt, bekommen wir Brot und Fleischbrühe in den Hof gebracht. Danach dürfen wir mit dem Esel im Stall schlafen.
    Es ist das erste Mal seit unserer Abreise, dass Aschkan und ich uns ungestört

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