Assassino
das würde bedeuten, dass Ilyas im elften oder zwölften Jahrhundert geboren wurde. Glaubst du das wirklich?«
»Natürlich nicht. Ich bin schließlich Wissenschaftler.«
»Aber trotzdem hältst du ihn für einen Assassinen.«
»Das eine schließt das andere nicht aus. Selbstverständlich war er nie in Alamut. Zumindest nicht vor tausend Jahren. Aber irgendeine Geschichte muss er uns ja erzählen. Also hat er die Wahrheit mit der Fantasie vermischt.«
»Verstehe ich dich richtig?« Kati blickte Chris scharf an. »Du meinst, er sei gar nicht hypnotisiert gewesen, sondern habe uns nur etwas vorgemacht?« Sie wandte sich an den Psychiater. »Ist das überhaupt möglich?«
Guégen setzte seine Teetasse ab. »In ganz seltenen Fällen schon. Aber es bedarf eines außergewöhnlichen schauspielerischen Talents, um einen geübten Hypnotiseur zu täuschen.«
»Und Ilyas?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass er uns etwas vorgemacht hat. Nach meiner Erfahrung war er sich die ganze Sitzung nicht darüber bewusst, was er uns erzählt hat.«
»Dann hat er diese Geschichte unbewusst erfunden, um uns etwas über sich mitzuteilen.« Chris war nicht so leicht umzustimmen. »Die Psychologie ist, wie wir alle wissen, keine exakte Wissenschaft. Sie mögen gut in Ihrem Fach sein, Doktor Guégen, und ich will Ihnen nicht zu nahe treten, aber sehr oft ist es doch die subjektive Interpretation des Therapeuten, die Bedeutungen schafft. Und oft sagen Legenden mehr über einen Menschen aus als die einfache Wahrheit. Wenn Ilyas die Assassinen wählt, dann wird das schon seinen Grund haben.Immerhin haben wir beide gesehen, wie perfekt er kämpfen und mit dem Messer umgehen kann. Und wie skrupellos.«
Guégen schienen Chris’ Zweifel an seiner Disziplin nichts auszumachen. »Ich kann Ihnen nicht widersprechen«, lächelte er. »Der menschliche Geist ist nach wie vor ein Rätsel, und genauso rätselhaft sind seine Äußerungen manchmal. Allein schon deshalb
kann
die Psychologie keine exakte Wissenschaft sein. Nicht alles in unserer Welt lässt sich vermessen und kartieren, und das ist vielleicht gar keine so üble Sache, finden Sie nicht?«
Chris brummte etwas Unverständliches vor sich hin, das sowohl Zustimmung als auch Ablehnung bedeuten mochte.
»Unklarheit her oder hin, das heißt noch lange nicht, dass Ilyas ein Killer ist«, sagte Kati. »Und ein Assassine schon gar nicht.«
»Und woher kennt er dann diese Geschichte?« Chris sah sie mit einem gewissen Triumph in den Augen an.
»Er hat sie vielleicht irgendwo aufgeschnappt.« Kati kam ein Gedanke. »Immerhin sind die Assassinen auch Paolas großes Thema. Vielleicht hat sie ihm davon berichtet.«
Kati entsann sich nur zu gut daran, wie zielgerichtet die Studentin Ilyas im Museum unter ihre Fittiche genommen hatte. Wer weiß, was Paola ihm in der ganzen Zeit, die Chris und sie über den Dokumenten gesessen hatten, alles erzählt hatte?
»Wenn wir wissen, woher er kommt und wer er ist, dann werden wir sicher auch erfahren, wie seine Geschichte zustande gekommen ist.«
Katis Stimme klang bestimmter, als sie sich fühlte. Dieseganzen rationalen Erklärungen für Ilyas’ Erzählungen waren alle so …
bemüht
. Was, wenn es wirklich stimmte? Wenn es seine
echten
Erinnerungen gewesen waren? Das würde vieles erklären: seine Wertvorstellungen, seine Kampfkünste, seine Desorientiertheit in der Welt … Aber dann meldete sich die Wissenschaftlerin in ihr. Wie sollte er einen Zeitsprung von über achthundert Jahren in die Zukunft gemacht haben? Das war schlicht und einfach unmöglich.
Aber wenn doch …
»Bist du sicher?«, unterbrach Chris ihre Gedanken.
Nein, das war sie nicht. »Ich kann Ilyas nicht in die Seele blicken, genauso wenig wie dir. Aber in die Augen.«
»Oh ja, das habe ich bemerkt.«
»Sarkasmus ist hier nicht angebracht, Chris.«
»Tut mir leid.« Er senkte den Blick.
»Schon gut. Was ich sagen wollte, war: Ich sehe einem Menschen in die Augen, und ich weiß, ob ich ihm vertrauen kann.«
»Findest du das nicht ein wenig naiv?«
»Bisher bin ich ganz gut damit gefahren. Deshalb gibt es keinen Grund für mich, jetzt auf einmal meinen Gefühlen zu misstrauen. Und außerdem … «
»Außerdem?«
»Außerdem vertraue ich Doktor Guégen. Wenn er die Hypnose für echt hält, dann schließe ich mich dem an.«
»Ihr Vertrauen ehrt mich«, lächelte der Alte. »Aber auch ich kann mich irren. Dennoch, in diesem Fall spricht alles dafür,
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