Assassino
meisten Fällen auch.
So wandern wir Tag um Tag dahin, und je weiter wir uns von unserem Zuhause entfernen, desto stumpfer wird der Schmerz. Dann und wann schließen wir uns einer Karawane an, und einmal werden wir von Straßenräubern überfallen, die uns um unsere Tiere und die wenigen Habseligkeiten erleichtern wollen, aber der Dai droht ihnen mit der ewigen Verdammnis und der Rache seiner Bruderschaft, woraufhin sie es sich anders überlegen und uns weiterziehen lassen.
Navid und ich freunden uns auf dem Weg an. Er ist ein heller Kopf, und oft sitzen wir abends beisammen und unterhalten uns darüber, welche Zukunft uns wohl erwarten mag. Auch die anderen haben sich mit ihrem Schicksal abgefunden, bis auf Aschkan, dessen Schmerz so tief sitzt, dass er gewiss noch lange brauchen wird, sich davon zu befreien.
Nach vielen Wochen erreichen wir einen Fluss. Er heißt Chah Rud, der Königliche, wie uns der Dai erklärt. Einen Tag lang folgen wir dem Weg an seinem Ufer, der, wie der Fluss selbst, langsam ansteigt. Schließlich gelangen wir zu einem Felsvorsprung, auf dem ein Wachturm aufragt. Drei schwer bewaffnete Männer kommen uns auf Pferden um den Fels herum entgegengaloppiert. Als sie den Dai erkennen, grüßen sie ihn ehrerbietig und machen ein Zeichen zum Turm hinauf, dass wir passieren können.
Wir kommen in eine dunkle Schlucht, bis zu deren Grund die Sonnenstrahlen nicht vordringen können. Das Rauschen des Flusses ist zu einem Tosen geworden. Der Weg ist hier schmal, und wir müssen aufpassen, nicht hinabzustürzen. Dann verbreitert sich der Pass plötzlich. Der Chah Rud teilt sich, und zwischen seinen beiden Armen ragt ein Felsen in die Höhe, auf dessen Spitze zwei Türme strahlend weiß in der Sonne glitzern.
»Das ist Alamut«, sagt der Dai.
Vermutungen
Ilyas schwieg.
Kati sah die Erschöpfung in seinem Gesicht. Obwohl er die Augen geschlossen und den Kopf zurückgelehnt hatte, wirkten seine Züge nicht entspannt. Schon während seiner Erzählung hatten sich dort die unterschiedlichsten Gefühlsregungen abgezeichnet. Das verwirrte und beruhigte sie gleichermaßen. Sie hatte in den wenigen Tagen, die sie ihn kannte, immer nur seinen gleichbleibenden Gesichtsausdruck erlebt und war froh, dass er auch andere Empfindungen zeigen konnte. Andererseits wies seine Miene während seiner Erinnerungen diese Furcht einflößende Intensität auf, die sie bereits kennengelernt hatte und die sie zugleich faszinierte und ängstigte.
Entsprechend verhielt sie sich Ilyas gegenüber auch. Es gab Momente, da wünschte sie sich nichts sehnlicher, als von seinen Armen gehalten zu werden und die unerschütterliche Ruhe zu spüren, die von ihm ausging. Und dann wieder war er ihr so fremd, dass sie vor ihm zurückschreckte.
Guégen warf einen kurzen Blick auf seine Armbanduhr. Dann beugte er sich vor und legte Ilyas die Hand aufs Knie.
»Wir kehren jetzt gemeinsam zurück in mein Zimmer. Wir verlassen den Dai, die Schlucht und deine Gefährten und bewegenuns langsam vorwärts in der Zeit. Ich werde gleich ein lautes Geräusch machen, und dann wirst du die Augen öffnen.«
Der Alte wartete noch ein paar Sekunden und klatschte dann in die Hände.
Ilyas schlug die Augen auf.
Kati bedauerte, dass er seine Geschichte nicht fortsetzen konnte. Seine Erzählung hatte sie in den Bann geschlagen, und durch seine bildhaften Schilderungen hatte sie das Gefühl gehabt, an seiner Seite über die staubigen Straßen Vorderasiens in Richtung Alamut zu wandern.
»Wann beginnen wir?«, fragte Ilyas.
»Du erinnerst dich nicht?«
»Woran sollte ich mich erinnern?« Er kniff misstrauisch die Augen zusammen.
Der Alte legte seine Finger um Ilyas’ Puls. »Du hast uns ein wenig über deine Kindheit erzählt«, sagte er. »Sagt dir der Name ›Dai Ibrahim‹ etwas?«
»Dai Ibrahim? Ein Geistlicher? Habe ich seinen Namen genannt?«
Guégen ließ sein Handgelenk los und nickte. »Du bist mit ihm nach Alamut gereist. Kannst du dich daran entsinnen?«
»Alamut.« Kati merkte Ilyas an, wie angestrengt er nachdachte. »Ich habe das Gefühl, das Wort bedeutet etwas. Ich habe es bestimmt schon einmal gehört. Aber mehr weiß ich nicht.«
»Keine Sorge.« Guégen reichte Ilyas ein Glas Wasser, das er in einem Zug leerte. »Manchmal benötigt die Erinnerung eine gewisse Zeit, bis sie wieder an die Oberfläche kommt.Aber wenn du möchtest, kannst du dir ansehen, was du mir berichtet hast.«
»Wie kann es sein, dass er sich an nichts von dem
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