Assassino
einen geschmeidigen Geist. Wer nur über das eine oder das andere verfügt, wird nie ein guter Fedajin sein.«
In den ersten Wochen üben wir die Ausdauer. Der Dai macht dabei keinen Unterschied, ob jemand älter oder jünger, kräftiger oder schmächtiger ist. Wir alle werden erbarmungslos von ihm angetrieben. So müssen wir täglich das Festungsgelände verlassen und einen Parasang, also eine Reitstunde, laufen. Am Anfang haben wir alle Probleme, aber von Tag zu Tag verbessert sich unsere Muskulatur und Atmung, bis wir die Strecke locker schaffen.
Bis auf Aschkan.
Er ist der jüngste von uns, und obwohl er sich Mühe gibt, ist er bereits nach der Hälfte der Strecke erschöpft. Da der Dai nicht mitläuft und uns auch nicht sehen kann, helfen einige von uns dem Kleinen, indem wir ihn einen gewissen Weg auf dem Rücken tragen. Das macht uns natürlich langsamer, und wir bekommen von Dai Dahwud Strafübungen, die wir absolvieren müssen, wenn die anderen frei haben.
Aschkan hält sich wacker, aber manchmal bricht er abends in Tränen aus. Manche von uns beschimpfen ihn und wollen ihn den Dais melden, aber Navid und ich nehmen ihn in Schutz. Doch wir wissen, dass wir ihn nicht ewig beschützen können.
Und so geschieht es auch. Nach dem Laufen kommt das Klettern. Wir üben das an einer der Außenwände der Festung,erst mit Seilen, dann ohne. Obwohl Aschkan leicht ist, hat er Probleme, sich an den winzigen Unebenheiten im Mauerwerk festzuhalten. Es ist nicht nur die mangelnde Kraft in seinen Fingern, es ist auch die Todesangst, die er vor Höhen hat.
Navid und ich bleiben so gut es geht in seiner Nähe, nicht, um ihn zu halten, falls er stürzt, denn das würde uns selbst mit in die Tiefe reißen, sondern um ihm gut zuzureden und davon abzuhalten, nach unten zu blicken. Doch dann kommt der Morgen, an dem wir ihm nicht mehr helfen können.
Aschkan hat die ganze Nacht in seinem Bett vor sich hin geschluchzt. Wie so oft, setze ich mich zu ihm und erzähle ihm Geschichten aus unserem Dorf. Das hat schon häufig geholfen, aber dieses Mal will er nicht aufhören zu weinen. »Ich schaffe es nicht, Ilyas«, schluchzt er. »Ich werde nie ein Fedajin sein. Warum lassen sie mich nicht einfach gehen?«
»Ich rede mit Dai Ibrahim, sobald er zurückkommt«, verspreche ich ihm. Ibrahim ist einer der Dais, die direkten Zugang zum Imam haben. Er verfügt über einigen Einfluss, und viele der anderen Dais blicken mit Respekt zu ihm auf. Aber Dai Ibrahim ist für ein paar Tage auf Reisen, und ich weiß nicht, wen ich sonst fragen soll.
Gleich nach dem Frühstück ordnet Dai Dahwud an, dass wir die Wand ganz herabklettern sollen. Ich spüre, dass Aschkan das nicht schaffen wird. »Ehrwürdiger Dai«, sage ich zu Dahwud, »erlaube mir, dir eine Bitte vorzutragen.«
Dai Dahwud ist ein harter Mann, so wie die meisten unserer Lehrer. Schwäche ist für ihn ein Zeichen mangelnden Glaubens, und Mitgefühl ist für ihn eine Tugend, die sichnur die Schwachen erlauben. Er schaut mich misstrauisch an: »Was willst du?«
»Bitte befreie den Jungen namens Aschkan von der heutigen Übung. Es geht ihm nicht gut.«
Die Miene des Dais verfinstert sich. »Warum sagt er mir das nicht selbst?«
»Er ist zu stolz, oh Herr«, lüge ich. In Wirklichkeit ist es so, dass Aschkan eine Heidenangst vor Dahwud hat.
»Die Hoffart ist es, die ihm Übelkeit bereitet. Nur die Demut vor dem Herrn wird ihn davon befreien.« Er klatscht in die Hände. »Zu mir!«, ruft er und wir versammeln uns um ihn.
Mit glühenden Augen mustert uns der Dai.«Wer von euch zweifelt an dem göttlichen Auftrag, den wir haben? »
Schweigen. Natürlich hebt keiner die Hand.
»Wer von euch hat nicht den Wunsch, einer der hervorragendsten Diener unseres Herrn zu sein?«
Schweigen.
»Wer von euch fürchtet sich vor dem Kampf gegen die eigene Schwäche?«
Schweigen.
»Wenn einer unter euch ist, dessen Glauben nicht ausreicht für unsere Mission, so trete er jetzt vor!«
Keiner rührt sich.
»Wenn einer unter euch ist, der zu schwach ist für unsere Mission, so trete er jetzt vor!«
Keiner rührt sich.
»Wenn einer unter euch ist, der Angst hat vor unserer Mission, so trete er jetzt vor!«
Erneut rührt sich keiner.
Dann schickt er uns an die Wand, nicht ohne mir vorher einen triumphierenden Blick zuzuwerfen.
»Warum hast du dich nicht gemeldet?«, zische ich Aschkan zu, als wir über die Mauerbrüstung klettern.
»Weil er mich niemals hätte gehen lassen«, jammert der
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