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Assassino

Assassino

Titel: Assassino Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerd Ruebenstrunk
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nicht erneut zurechtzuweisen. Wie kann er mir solche Gedanken anvertrauen? Weiß er nicht, in welche Zwickmühle er mich damit bringt? Wenn ich schweige, mache ich mich zu einem Mitwisser, und wenn ich ihn melde, zu einem Verräter.
    »Ich habe gesehen, wie du reagiert hast, als Aschkan von der Felswand gestürzt ist. Am liebsten hättest du Dai Dahwud hinterhergeschickt. Das habe ich nie vergessen.«
    »Das ist lange her«, murmele ich. Aber das ist eine Lüge. Inzwischen vergeht keine Nacht, in der ich nicht an jenen Morgen denken muss, an dem Aschkan umgekommen ist. Und mein Hass auf Dai Dahwud ist eher gewachsen als abgeklungen. »Und außerdem hat das nichts mit unseren Aufgaben zu tun«, füge ich hinzu.
    Navid kratzt ein Steinchen aus der Mauerritze und wirft es achtlos hinab. »Das sind wir«, sagt er bitter. »Die Ärmsten der Armen, herausgekratzt aus den Ritzen der Gesellschaft und entbehrlich wie ein Krümel dieser Mauer. Ob er fehlt oder nicht, fällt keinem auf, und niemand weint ihm eine Träne nach.«
    »Wir sind Fedajin«, erwidere ich. »Wir haben keine Heimat und keine Familie, nur die Bruderschaft.«
    »Wir
haben
eine Heimat und eine Familie. Die Bruderschaft hat uns die Gehirne gewaschen, damit wir sie vergessen. Aber wie könnte ich das?« Er warf noch eine Handvoll Steine hinterher. »Deshalb kehre ich alsbald dorthin zurück, wo ich hingehöre.«
    »Du willst die Bruderschaft verlassen?« Eine für mich ungeheuerliche Vorstellung. Trotz allem, was geschehen ist. Hier hat man uns aufgenommen, uns gelehrt, uns gut versorgt. Wir stehen in der Schuld des Imams.
    »Nein, die Bruderschaft hat uns verlassen, indem sie uns belogen und betrogen hat. Ich will nicht mehr für andere töten, die sich mit dem Blutgeld die Taschen vollstopfen. Ich höre auf.«
    Ich weiß nicht, was ich darauf sagen soll. Natürlich hat Navid unrecht. Die Bruderschaft ist alles für uns, ist unser Leben. Und doch treffen seine Worte irgendwo tief in meinem Inneren auf Widerhall.
    Es ist das letzte Mal, dass ich mit Navid spreche. Am Tag darauf ist er nicht mehr in Alamut. Ob er auf eine neue Mission geschickt wurde? Oder ob er seinen Entschluss wahr gemacht hat und nach Hause zurückgekehrt ist? Oder   …
    Ich wage die dritte Möglichkeit kaum zu denken, und als ich am selben Tag zu Dai Ibrahim gerufen werde, frage ich mich, ob jemand unsere Unterhaltung mitgehört oder Navid sich anderweitig verraten hat.
    »Setz dich«, fordert mich der Alte auf, als ich mit klopfendem Herzen in sein Zimmer trete. Er wohnt, wie viele der älteren Dais, im Turm, in dessen Spitze der Imam lebt. Ein Diener des Dais bringt uns Tee, und wir sitzen uns auf den Kissen gegenüber, die neben einem Bett, einem Studierpult und dem kleinen Tisch zwischen uns die einzige Möblierung des Raums darstellen.
    »Glaubst du daran, was deine Vorgesetzten dich gelehrt haben, Ilyas?«, beginnt Dai Ibrahim das Gespräch.
    »Ich glaube daran«, antworte ich. Aber ist das die Wahrheit? Ich spüre, wie die Saat des Zweifels, die Navid in meinem Herzen gesät hat, ihre Sprossen ausstreckt. Und der Boden dafür wurde damals bereitet, als Dai Dahwud Aschkan in den Tod schickte.
    »Und würdest du, wenn ich es dir auftrage, ohne zu zögern von der Spitze dieses Turmes springen, auch wenn du persönlich darin keinerlei Sinn erkennen kannst?«
    »Das würde ich, großer Dai.« Was soll ich ihm sonst antworten? Soll ich ihm beschreiben, wie es in mir aussieht, welche Kräfte dort gegeneinander kämpfen, seit Navid mir seine Gedanken anvertraut hat?
    Ich kann es nicht. Ich habe gesehen, was mit Fedajin geschieht, die in den Augen des Imams oder eines der großen Dais versagt haben. Sie werden ohne Erbarmen in die Felsenschlucht hinabgestoßen.
    Aber ich will
leben
!
    Allein das ist schon ein Verbrechen, denn wir Fedajin werden ausgebildet, um zu sterben. Wenn wir einen Auftrag überleben, dann ist das nur geschenkte Zeit. Wir werden so lange losgeschickt, bis wir nicht mehr zurückkehren.
    Dai Ibrahim blickt mich durchdringend an. »Du hast bei deinen ersten Missionen bewiesen, dass du über außergewöhnlichen Mut und viel Geschicklichkeit verfügst. Der Imam hält große Stücke auf dich. Wie du weißt, verfolgt er alle Aktivitäten seiner Kämpfer sehr genau.«
    »Ich fühle mich geehrt, großer Dai, aber ich bin nur ein einfacher Gläubiger, der sich seiner Schwächen wohl bewusst ist.«
    »Deine Bescheidenheit spricht für dich.« Der Dai legt seine Fingerspitzen

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