Assassino
Kleine. »Keinen von uns werden sie gehen lassen.«
Navid klettert zu Aschkans Linken, ich zu seiner Rechten. In der Ferne verdunkelt sich der Himmel und erste Sturmböen fegen durch die Schlucht zu uns herauf. Aschkan erstarrt. Wir reden ihm gut zu und langsam tastet er sich weiter nach unten.
Und dann passiert es.
Ich weiß nicht, ob es ein Unfall ist oder Absicht, aber auf halber Höhe lösen sich seine Finger aus den Fugen des Mauerwerks. Sein letztes Wort ist ein lang gezogener Schrei, den ich nie vergessen werde:
»Iiiilyaaassss!«
Dann schlägt sein Körper vor der Festung auf.
Es ist, als ob mir das Herz aus dem Leib gerissen wird.
An diesem Abend spreche ich lange mit Navid darüber, ob ich nicht mehr hätte tun müssen, um Aschkan zu schützen. Bei unserem Aufbruch hat er sich mir anvertraut. Habe ich ihn nicht im Stich gelassen? Ist es meine Schuld, dass er jetzt tot ist? Navid und ich trösten uns gegenseitig und wissen doch, dass es keinen Trost gibt.
An diesem Tag ist ein Keim gesät worden.
2.
Viele Jahre dauert unsere Ausbildung. Auch wenn wir glauben, perfekt zu sein, finden die Dais immer wieder neue Wege, uns zu zeigen, wie unvollkommen wir noch sind. Wir brennen darauf, endlich einen echten Einsatz durchführen zu dürfen, auch wenn uns klar ist, dass wir dabei höchstwahrscheinlich unser Leben verlieren werden. Aber seit einiger Zeit kommen erfahrene Fedajin zu uns in den Unterricht, und wenn sie von ihren Missionen berichten (natürlich ohne uns Einzelheiten zu nennen, denn das ist streng verboten), dann haben wir nur einen Wunsch: endlich auch für den Imam kämpfen zu dürfen.
Schließlich ist es so weit. Navid und ich bekommen jeder unsere erste Mission. Wir sind die perfekten Kampfmaschinen. Wir reagieren ohne nachzudenken im Bruchteil eines Wimpernschlags. Wir lernen fremde Sprachen und Dialekte schnell. Wir spielen die Rolle eines Dais ebenso überzeugend wie die eines Bettlers.
Wir überleben beide. Das ist der Beweis dafür, wie gut wir sind.
Und so wird es weitergehen.
Wir werden töten, bis wir eines Tages selbst getötet werden.
Wir sind Kampfmaschinen. Das ist unsere Bestimmung.
Doch manchmal, kurz vor dem Einschlafen, höre ich Aschkans Stimme.
Wie er als letztes Wort in seinem Leben meinen Namen ruft.
3.
Eines Abends, als ich auf der Mauer im oberen Teil der Burg sitze und den milden Abendwind genieße, kommt Navid herbei und setzt sich neben mich. Er hat, ebenso wie ich, schon einige Missionen hinter sich. Das weiß ich, weil er mehrfach für einige Zeit aus Alamut verschwunden war. Wir dürfen zwar nicht darüber reden, aber wer nach einer längeren Abwesenheit zurückkehrt, der hat wahrscheinlich einen Auftrag erfolgreich erledigt.
»Friede sei mit dir, Ilyas«, sagt er.
»Und Friede mit dir, Navid«, erwidere ich.
Dann blicken wir beide ins Tal und schweigen. Navid wird sprechen, wenn er es für richtig hält, und das tut er auch.
»Erinnerst du dich noch an unsere erste Begegnung? Als uns Dai Ibrahim aus unserer Heimat geholt hat?«
»Es steht noch wie gestern vor meinem inneren Auge. Du warst ein kleiner, schmächtiger Knabe.« Ich stoße ihn leicht in die Seite. »Und schau an, was aus dir geworden ist.«
Navid lacht. »Du bist auch nicht eben schmaler geworden.«
Ich rolle meine Schultern, lasse meine Muskeln spielen. Und muss genau in diesem Augenblick an Aschkan denken. Sofort vergeht mir das Lachen.
Navid kennt mich gut genug, um meine Gedanken zu erraten. Er holt tief Luft.
»Hast du dich eigentlich einmal gefragt, warum wir das tun?«
»Du meinst unsere Missionen?« Ich beginne ganz automatisch zu flüstern.
Er senkt ebenfalls die Stimme. »Fünf Menschen habe ich bereits getötet. Und warum? Keiner will es mir sagen.«
»Weil es uns nichts angeht. Dich nicht und mich nicht. Wir tun lediglich Gottes Werk.«
»Bist du dir da so sicher? Bei meinem letzten Auftrag habe ich ein sechzehnjähriges Mädchen umgebracht. Da hatte ich schon Zweifel, ob es Gottes Werk war. Hinterher habe ich erfahren, dass der Imam gut dafür entlohnt worden ist.« Er holt tief Luft. »Wir sind nichts anderes als bezahlte Mörder, Ilyas.«
»Das ist Blasphemie!«, zische ich. »Wie kannst du es wagen, so etwas nur zu denken?«
»Ja, genau das ist die richtige Frage. Wie können wir es wagen, selbst zu denken? Das hat man uns in den ganzen Jahren doch auszutreiben versucht. Wir sollen nicht fragen, sondern nur ausführen.«
Ich beiße mir auf die Lippen, um ihn
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