Assassino
werden konnte. Das Bild der Männer, die in ihrem eigenen Blut lagen, hatte sich fest in ihr Gedächtnis eingebrannt.
Auch mit Ilyas war eine Veränderung vorgegangen. Seit seinerzweiten Sitzung mit Guégen war er, wenn das überhaupt möglich war, noch schweigsamer und in sich gekehrter geworden. Zugleich hatte seine körperliche Unruhe zugenommen. Er hielt es kaum länger als ein paar Minuten auf einem Stuhl aus, rannte wie ein eingesperrtes Tier in der Wohnung herum, und wenn sie ihn in ein Archiv oder eine Bibliothek mitnahmen, ging er schon nach kurzer Zeit wieder nach draußen, wo er die Straße auf und ab lief.
Auch heute war es nicht anders. Kati sah ihn durch das Fenster des Antiquariats. Er stand auf der anderen Straßenseite und starrte in den Himmel, als erwarte er von dort eine Lösung seines Problems. Ein Problem, das zu lösen schier unmöglich schien. Sie war selbst erstaunt, wie leicht es ihr fiel, seine Erklärung zu akzeptieren, aus einer anderen Zeit zu stammen. Noch vor wenigen Wochen hätte sie das, wie Chris, als Fantasterei abgetan.
Kati legte das Buch weg, in dem sie blätterte. Sie konnte sich nicht konzentrieren. So viel ging ihr durch den Kopf, und es betraf neben Ilyas vor allem Paola. Die Leichtigkeit, mit der die junge Frau die beiden Angreifer getötet hatte, stand ihr noch genau vor Augen. Das war nicht einfach nur Kung-Fu, wie sie ihnen erklärt hatte. Hinter Paola steckte mehr. Sie bewies in Augenblicken der Gefahr dieselbe Kaltblütigkeit wie Ilyas. Und dann noch die Enthüllungen ihres Vaters …
Es war Zeit, die Initiative zu ergreifen. Zu lange hatte sie sich treiben lassen, hatte alles akzeptiert, was um sie herum geschah. Und das Ergebnis war, dass sie sich so hilflos fühlte wie noch nie in ihrem Leben.
Sie musste den Knoten zerschlagen! »Ich geh mal kurz nach draußen«, rief sie Chris zu und war bereits an der Eingangstür, bevor er reagieren konnte. Sie überquerte die Straße, und einer der beiden Bodyguards folgte ihr in zehn Meter Abstand.
»Wir müssen reden«, sagte sie zu Ilyas und dirigierte ihn am Oberarm den Bürgersteig entlang, bis sie ein Straßencafé erreichten, in dem noch ein paar Tische frei waren. Ilyas setzte sich zwar, aber sie spürte, wie es ihn drängte, gleich wieder aufzuspringen.
»Du wirst dich jetzt auf das Gespräch konzentrieren«, sagte sie entschieden. »Danach kannst du dann nach Herzenslust herumwandern. Aber erst will ich ein paar Antworten von dir, und ich denke, ich habe ein Recht darauf.«
Er blieb stumm, und das war schon ein Fortschritt. Kati bestellte beim Kellner für sie beide Tee und wartete, bis die Gläser vor ihnen standen. »Was ist mit dir los? Seit du allein bei Guégen warst, bist du wie verändert. Ist es diese Geschichte mit dem
wandernden Assassinen
, die Paola erzählt hat?«
Ilyas gab einen Laut von sich, der sowohl eine Bestätigung als auch eine Verneinung sein konnte.
»Ich würde dir gern helfen. Aber das kann ich nicht, wenn du mir nicht sagst, worum es geht.«
Er gab sich einen Ruck. »Ich habe mich erinnert«, sagte er.
»Aber das ist ja großartig!«, rief Kati. »Dann weißt du jetzt endlich, wer du bist und woher du kommst! Warum hast du uns das nicht gleich erzählt?«
»Weil es nicht besonders erfreulich ist, was ich erfahren habe.«
»So schlimm kann es doch gar nicht sein«, erwiderte Kati. Sie stutzte, als sie seinen Gesichtsausdruck bemerkte. »Oder doch?«
Er starrte nachdenklich ins Leere. »Ich werde euch verlassen müssen.«
»Aber warum denn? Wo willst du denn hin?«
»Ich weiß es nicht. Ich vernehme den Ruf von Tag zu Tag stärker, aber noch hat er keine Richtung. Doch jeden Tag kann es so weit sein.«
Schon wieder diese Rätsel! Kati hatte es endgültig satt. »Ich möchte jetzt eine klare Antwort auf meine Frage. Wer ruft dich?«
»Tamar«, flüsterte er, so als habe er Angst, ihren Namen zu laut auszusprechen.
Kati warf verzweifelt die Hände in die Luft. Musste man ihm denn jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen? »Und wer, bitte, ist Tamar?«
»Tamar ist die Königin der Georgier.«
»Georgien ist, soweit ich weiß, eine Republik«, korrigierte ihn Kati.
»Wir sprechen über eine Zeit, die lange zurückliegt. Damals herrschte Tamar über ihr Volk, und ich hatte den Auftrag, sie zu töten.«
»Einen Augenblick.« Kati zog ihr Smartphone aus der Tasche und tippte »Tamar« bei Wikipedia ein. Sie studierte den kurzen Eintrag und sah dann langsam auf.
»Tamar hat
Weitere Kostenlose Bücher