Astragalus
Vortag hatte man meinen Stift abgebrochen, hatte meine Haxe gelb angemalt, hatte sie in einen riesigen Schaumstoffverband gewickelt. Ich schminkte mich ganz dezent, weil mir die Schwester empfohlen hatte: »Bloß nichts ins Gesicht, und machen Sie den Nagellack weg!« Selbst tot wollte ich Gottvater noch angenehm sein.
Um zehn hoben mich die Pfleger auf die Liege, die Oberschwester deckte mich mit dem Laken zu, schob je ein blütenweißes Kissen unter meinen Kopf und mein Bein, und ich fuhr los, grüßte mit den Fingerspitzen nach rechts und links wie eine Königin in ihrer Kutsche.
Im Vorraum des OP, in den mich vor Stille betäubende Flure geführt hatten, beugte sich die Oberschwester über mich. Ich sah ihr Gesicht in Großaufnahme und hatte Zeit, ihre Augen hinter den Brillengläsern weich werden zu sehen, während sich ihr Mund mit einem schönen, knallenden Kuss an meine Wange drückte. Sie sagte: »Bis nachher, Kleines«, und verschwand.
Ich blieb allein in dem Raum voll sauberer Schatten. Die Akte wartete auf dem Fußende der Liege, hinter meinen Füßen, die nebeneinander ausgestreckt waren wie die einer Sterbenden; aber ich war unfähig, sie von dort zu holen, das Ende der Liege war das Ende der Welt, und letztendlich pfiff ich auf diese Papiere. Ich pfiff auf alles, ich war tot, meine Arme lagen tot neben meinem toten Körper, nur die Wand lebte, wogte und drehte sich langsam.
Der diensthabende Arzt zerstörte meine Seligkeit. Er kam herein, füllte die Leere mit mächtigem Lärm und mächtigem Umfang, stieß Wortströme und Rauchschwaden aus. Dabei wusste ich, dass er gedämpft sprach und seine übliche Gauloise qualmte, aber meine Gedanken und Sinne bewegten sich nicht mehr auf derselben Wellenlänge.
»Na, Kleines«, brüllte der Assistenzarzt, »sind wir in Form? Wollen wir nicht schlafen?«
Ich dachte »nein, nein« und versuchte, meinen Blick wiederzubeleben.
Und ich starb, die linke Hand im Handschuh des Arztes, den steifen rechten Arm auf dem Brett, sobald der Anästhesist angefangen hatte, auf den Kolben seiner großen Penthotalspritze zu drücken. Ich starb mit einem angenehmen Kribbeln in den Schläfen, ohne dem Eintreten Gottes beigewohnt zu haben.
So ging ich dreimal zum OP. Um die Lücke zu überbrücken, die durch die Entfernung meines Astragalus entstanden war, bohrte man zwei neue Stifte durch die Leere, einen in der Ferse und einen im Knöchel; vier mit der Zange gebogene und mit Pflaster befestigte Bügel ragten aus dem Gips. Als die Oberschwester einmal frei hatte, gelang es mir endlich, die Akte, die von der Vertreterin schon beim Frühstück ausgelegt worden war, zu entwenden und die OP-Berichte abzuschreiben. Ich lernte neue Wörter: Resektion, Abrasion, Astragalektomie, Arthrodese …
Julien kommt mich gelegentlich besuchen. Weil der Sommer naht, bringt er Früchte und Flaschen mit. Während der Besuchszeit geht er raus und holt Eis für mich und meine Nachbarinnen. Auf meine Kissen gestützt, sehe ich ihn den Saal durchqueren, das blonde Lächeln, brav und zugleich albern mit seinen fünf oder sechs Waffeln Vanille-Erdbeer, die er mit den Fingerspitzen balanciert. Der ganze Saal, außer mir, ist mit ihm verlobt. Wir wirken naiv und sorglos, wir halten uns bei den Händen.
»Ach Anne! Es wird Zeit, dass du zurückkommst … An dem Abend, als du ins Krankenhaus gebracht wurdest, habe ich bei Pierre geschlafen, in deinem Bett. Als ich ins Zimmer kam, habe ich dich gesehen, geatmet, du warst noch da …«
Ich lehne mich an ihn, ich beschmiere seine Hemdschulter mit Schminke; die Jacke hat er über den Bügel geworfen. Eine nach der anderen fallen die Hüllen, wir erkennen uns wieder … Jeder Besuch ist übervoll von Hoffnung und Nichts, es gibt keinen Platz für uns auf Erden: herumirren oder Knast, für immer und für immer allein.
»Es wird Zeit, dass du zurückkommst …«
»Aber ich will nicht dorthin zurück!«
»Du musst aber … Bis du deinen Gips los bist. Vergiss nicht, dass du Ninis Schwester bist … Danach finde ich etwas anderes, wahrscheinlich in Paris. Versuch herauszukriegen, wann sie dich ungefähr rauslassen.«
»A propos, Julien, hast du dich erkundigt, was Arthrodese ist?« Bei seinem letzten Besuch hatte ich ihm die Abschriften mitgegeben und ihn beauftragt, sie zu entschlüsseln.
»Ja, das heißt Versteifung. Du wirst deinen Fuß nicht mehr beugen können.«
»Sie könnten ihn verlieren«, »Schicken Sie mir die Eltern« und jetzt
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