Astragalus
einzigen Wassertropfen infizieren. Auch die Pflege der Zehen verlangt große Aufmerksamkeit. Der bloße Kontakt mit dem Waschhandschuh weckt sie auf.
Eines Morgens habe ich das Pflaster von den Stiften entfernt und um sie herum Faser für Faser einen Gipskreis ausgeschält, damit ich etwas sehe. Gesehen habe ich einen Metalldraht, der in dunkelrotem, gequetschtem, geschwollenem Fleisch verschwindet. Mit einigem Ziehen und Schieben gelingt es mir, einen Stift zu bewegen, aber der andere bleibt fest. Ich stelle mir vor, was ich durchmachen werde, wenn man sie mir herauszieht, ich denke an diesen Ausschnitt übles Bein und könnte heulen. Ich habe die Schnauze voll, jetzt soll endlich Schluss sein.
Ich soll laufen, damit ich endlich abzische, jedenfalls hätten auch alle anderen gern, dass Schluss ist. Eigentlich wäre Pierre heilfroh, wenn ich etwas Verrücktes machte. Warum soll ich auf Julien warten? Was will ich denn noch?
»Ja, ja, sicher, Sie müssen in der Nähe vom Krankenhaus bleiben … Aber danach? Was haben Sie dann vor?«
Pierre zieht nachdenklich sein Bandoneon auseinander, auf dem er Fingerübungen macht, ein Blick auf das Notenheft, ein Blick auf mich, ein Arpeggio, eine Phrase. Er hat das Unterhemd ausgezogen und präsentiert glänzende Wülste über dem Gürtel seiner Shorts. Ich sitze in Unterhose und Büstenhalter vor ihm, die Hitze rechtfertigt es.
»Wie? … Pierre, dann kann ich laufen, dann komme ich schon klar.«
»Kommen Sie klar. Aber vorläufig laufen Sie nicht. Angenommen … Julien hat Sie sicher ins Bild gesetzt, Ihnen ist doch klar, dass er einiges für Sie riskiert. Der Schotter …«
»Machen Sie sich keine Sorgen, wir rechnen ab, das klären wir unter uns.«
Was mischt der sich denn da ein?
»Ach so, ihr beide unter euch! Und was ist jetzt?« Pierre klimpert voller Inbrunst, hoch und runter flitzen die Tonleitern unter seinen Fingern, die irgendwie nicht zum Rest seiner Person passen, gelenkige, anmutige, präzise Finger an einer schwabbligen, keifenden Masse.
»Ist Ihnen aufgefallen, dass er seit zehn Tagen nicht mehr hier war?«
»Er arbeitet. … Und mit dem Aufenthaltsverbot sollte er sich besser nicht allzu oft in der Gegend blicken lassen.«
»Ja, ja. Sie reden wie ein Buch! Und wenn er nicht wiederkommt, wenn ihm was passiert ist? Haben Sie daran gedacht?«
O ja, Pierre, ich habe daran gedacht. Ich denke jede Stunde, jede Sekunde daran. Der Gedanke an Julien weckt mich und hält mich wach, wenn ich nächtelang auf jeden Motor, jede Tür, jeden Schritt lauere. Vielleicht kann ich so das Unglück und die Schatten von seinem Weg fernhalten … Sieh dich vor, Julien. Ich kann jetzt laufen. Ob auf einem oder zwei oder drei Beinen, ich werde immer weit genug laufen, um dich wiederzufinden, diesmal dich zu reparieren, wenn es sein muss. Aber sieh dich lieber vor …
Ich starre auf das Ende meiner Zigarette: »Irgendwann kommt Julien immer wieder«, sage ich.
»Ja, beim letzten Mal haben wir ihn zum Essen erwartet, und er ist zwei Jahre später aufgetaucht.«
»Und wenn, würden eben wir ihn unterstützen. Würde ich ihn unterstützen. Nachdem ich Sie bezahlt hätte natürlich. Aber da Julien immer ein paar Wochen im Voraus zahlt, glaube ich nicht, dass ich jetzt schon was unternehmen muss. Was wollen Sie, ich habe halt keinen Mumm.«
(Oh, diese Rechnerei!)
»Sie werden sowieso nichts unternehmen«, sagt Pierre. »An dem Tag, an dem Sie durchs Gartentor gehen, ist es gut. Sie wollen doch wohl nicht malochen gehen, so wie ich in der Fabrik? Und abends irgendwelche Freier und Bullen im Schlepptau …«
»… und Zuhälter.«
Ich füge es hinzu, weil Pierre gerade dabei ist, mit betonter Gleichgültigkeit meinen Oberkörper zu betrachten, und weil ich durchaus begreife, worauf er hinauswill. Ich nehme nicht an, dass die vier oberen Zimmer zu Zeiten des Gasthofs ausschließlich für Touristen bestimmt waren.
Ich stelle mir vor, wie Nini die schäbigen Handtücher austauscht und in ihrer Geldtasche nach Hütchen sucht, danke M’sieurdame. Am Zahltag würde mir Pierre an der Bar – ich kriege ein großes Wasser – einen Kundenstamm besorgen.
Er blättert seine Noten um und sagt: »Sie verstehen schon, bei den ganzen Kötern kommt hier keiner rein, ohne seine weiße Pfote zu zeigen. Wenn jemand Sie besuchen will, dann nur, wenn ich es ihm erlaubt habe. Schlimm genug, dass wir dem Krankenhaus die Adresse geben mussten … Ich hoffe, Sie lassen sich keine Postkarten
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