Astragalus
»Versteifung«. Meine Augen entfärben sich an der weißen Schulter – je mehr ich weine, desto mehr brennt es, je mehr es brennt, desto mehr weine ich, verdammte Wimperntusche. Nie wieder werde ich auf Zehenspitzen gehen, ade, Absatzschuhe, ich werde hinken, und du wirst die Krücke eines verkrüppelten Mädchens sein, das nicht zu dem imstande sein wird, was du vielleicht von ihm erwartet hast, das sich nicht einmal … Die Zukunft gerät ins Wanken. Wie soll ich jetzt tollkühn, aufreizend sein? Wie soll ich wagen, mich zu zeigen? Rolande …
Ich überlege, ich drifte ab, bis zum Ende der Besuchszeit liege ich stumm, reglos, schniefend in Juliens Arm. Er wiegt mich, liebkost mich mit sanften Geschichten, macht sich liebevoll über meinen Kummer lustig. Es gibt noch andere Chirurgen, später gehen wir zu den Superchampions und … Doch, doch, du Dummchen, du wirst wieder herumspringen wie vorher.
Am nächsten Tag frage ich den Arzt, ob ich nach Hause kann.
Er prüft die Röntgenbilder, schlägt das Laken zurück, beugt mein Knie, zieht meine Zehen lang, die jetzt frisch und abgeschwollen, aber immer noch unbeweglich sind. Mit seinem Kittel und dem behaarten Dreieck im Ausschnitt, seinen in eine weiße, um seine Beine flatternde Schürze geschnürten Hüften sieht er aus wie ein großes, als Metzger verkleidetes Tier.
Er schaut mich an, dann entdeckt er die Flasche Montbazillac auf dem Nachttisch und lächelt: »Fühlen Sie sich nicht wohl bei uns? Erlaubt Ihnen Ihre Mama das Trinken?« Dann: »Ich denke, Sie können raus. Fragen Sie den Chef, aber ich sehe keinen Grund … Sie kommen dann in die Sprechstunde, um sich den Gips abnehmen zu lassen.«
»Aber … kann ich nicht einfach … jetzt gleich gehen?«
»Also … Ich weiß nicht.«
Julien kommt nachher wieder, er muss mich mitnehmen … Ich schnappe mir die Oberschwester. Sie lässt zwar jede Genehmigung von den Stationsärzten sorgfältig bestätigen und gegenzeichnen, aber vor uns spielt sie gern den großen Häuptling.
Als sie mir um elf meinen Mittagsteller bringt, gibt sie grünes Licht: »Ich habe Ihren Entlassungsschein fertiggemacht. Sie gehen heute Nachmittag. Wollen Sie einen Krankentransport, oder werden Sie abgeholt?«
»Nein, nein, ich habe jemanden.«
Die Hilfsschwester nimmt unsere Teller, trägt sie zum Tisch in der Mitte und befördert die Reste in einen Eimer. Sie fährt mit dem Lappen über das blaue Resopal des Tischs, blau wie die Wände und der Juni, draußen, vor dem Fenster. Wohlige Hitze kommt in Wellen herein; das Fenster glänzt, als würde die Farbe perlen. Ich gehe, ich werde diese glückliche Trägheit verlassen, dieses Bett in der Sonne, ich verlasse das Krankenhaus.
Gestern war ein Bulle da, er suchte »eine Minderjährige, die einen Verkehrsunfall hatte«. Er kam direkt zu meinem Bett, meine Stimme versagte, und mein Rücken begann zu triefen; aber ich war noch dabei, von dem Hund und der Terrasse zu erzählen, da hatte er schon kehrtgemacht. Später erfuhr ich, dass die gesuchte Minderjährige im Nachbarzimmer lag: Unfall mit dem Vélosolex, ein Knie zersplittert. Trotzdem, ich hatte so einen Schiss! Julien hat recht: Die kleine Schwester, die zufälligen oder wohlwollenden Fragen ausgesetzt ist, wird weniger stören, wenn sie zu Hause ist.
Ich kann Pierre förmlich hören: »Hör mal, so eine Göre kann uns alle in den Bau befördern …« Ja, ja, es reicht, ich komme zurück. Aber diesmal lass ich mir nichts bieten. Ich habe einen Stammbaum, eine Astragalektomie, und Julien, Julien, dem ihr die Stiefel leckt, weil er Kohle hat, Julien ist da, er wird aufpassen, dass ihr eure giftigen Zungen im Zaum haltet, runterschluckt, und bald werde ich auch auf euer Gerede pfeifen.
»Nimmst du mich mit?«
Wohin, das bleibt ungesagt; alle diese Wörter, Knast, Einbruch, Polizei, habe ich zu verschweigen gelernt. Als ich sie bei Juliens ersten Besuchen benutzte, auch nur ganz leise, schienen sie immer in ein Loch von Stille zu knallen, und der ganze Saal, Bettlägerige und Besucher, wirbelte aufhorchend und empört zu mir herum. In einer Sekunde führte mein Wort in die Katastrophe, ich wurde erkannt, mitgeschleift, gelyncht … Dann stellte ich fest, dass nichts war, dass niemand zugehört oder gezuckt hatte. Doch, Julien, sein Gesicht empfing den Schlag mit einem unmerklichen Wechsel des Ausdrucks, ein Schatten, ein Missfallen – oh, oh, schon wieder ein Patzer, Anne … Was tun, um Julien zu gefallen? Wie soll ich das,
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