Astragalus
wurden. Er urteilt, trennt, schneidet, pfropft. Aber wir haben keinen Zugang zu seiner Küche. Unser Fleisch wurde beschlagnahmt, und wenn es uns vergönnt sein sollte, eines Tages wieder mit der einstigen Freude darüber zu verfügen, o heilige Rüstigkeit, so werden wir doch nie wissen, auf welchem Weg es uns zurückgegeben wurde.
Gottvater kommt zwei-, dreimal in der Woche vorbei. An den Tagen der Chefvisite schiebt die Hilfsschwester die Koffer unter die Betten, entsorgt die Pullen, die sich unter unserem Krankenlager angesammelt haben, und desinfiziert die Bettpfannen mit ungewohnter, demonstrativer Sorgfalt; ständig kriegen wir ihr »Oh, lá, là!« zu hören. Keine Chance, die Pfanne vor dem großen Rundgang zurückzubekommen. Wir kneifen unsere Schließmuskel zusammen, glätten die Oberfläche unserer Bettstatt, frischen Augen und Lippen auf. Die Liebe, die wir alle Ihm entgegenbringen, inspiriert uns zu anmutigen Posen, lässt die Handarbeiten oder Lesestoffe aus unseren Nachtschränken auftauchen, die uns am geeignetsten erscheinen, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Wenn er sich herablässt zu bemerken, dass es rings um den Knochen eine Frau gibt, ein unzerlegbares Wesen, das arbeitet und denkt, wenn er für einen Moment den Blick von den Röntgenbildern zu unserem Gesicht hebt, wenn er uns ein Lächeln oder ein Wort schenkt, dann werden unser Leiden und unsere Ahnungslosigkeit schwinden, wir werden genesen, und wir werden wissen.
Er naht. Füße und Beine, Stützstrümpfe und Gips, Glanz und Blässe, alles zerfließt und erstarrt in derselben Demut. Die Oberschwester lässt den Wagen verschwinden, vergewissert sich, dass keine Zigarette auf der Nachttischkante glimmt. Dann geht sie in die Ecke mit dem Röntgenbilderkasten. Das ist eine große weiße Kiste auf Rädern und mit dickem Deckel; sie enthält unsere Akten. Die Oberschwester verschwindet unter dem Deckel, holt unsere sechs Krankenblätter raus und legt sie auf die Fußenden. Sie wird sie wieder einkassieren, sobald der Chef weg ist.
Ich kenne nicht mal meine Blutgruppe und würde trotzdem gern die Nase in diese Mappe stecken. Aber wie? Ihre Liegezeit auf dem Bett ist zu kurz, und die Oberschwester rührt sich nicht aus dem Zimmer, überwacht gleichzeitig den Flur, auf dem das Gefolge auftauchen wird, und jede Regung, die wir zu machen versuchen. Die Kiste ist nicht abgeschlossen, aber da keine von uns laufen kann … Einen Besucher bestechen? Mich in flagranti wegen Egoneugier erwischen lassen, eher nicht. Ich lauere. Eines Tages wird der Chef vor dem Bett gegenüber haltmachen und die gesamte Aufmerksamkeit auf sich ziehen, und alle werden mir lange genug den Rücken zukehren, damit ich angeln, blättern und zurücklegen kann. Ich vermute allerdings, dass mein Elektrokardiogramm, die Analyse meiner diversen Körperflüssigkeiten und das Röntgenfoto meiner Lunge gleichermaßen zufriedenstellend sind. Wie könnte es anders sein?
»Ich habe Schmerzen …«
»Ich bin so furchtbar müde (oder nervös oder verstopft).«
»Schauen Sie nur, Doktor, ich fange an, wund zu werden.«
Egal, was man Überraschendes oder Beunruhigendes an sich entdeckt, man muss, wenn man es Äskulap wissen lässt, mit folgender Antwort rechnen: »Aber das ist doch ganz normal!«
Es ist also normal, dass ich spüre, wie meine Koje schwankt und in den Abgrund kippt, dass meine Hüften bunt wie ein Regenbogen sind, dass plötzlicher Heißhunger von Übelkeit abgelöst wird, dass mir ein Kloß in der Speiseröhre steckt und dass die Zehen auf ihrem Gipssockel liegen wie fünf kleine tote Würstchen. Übrigens macht mir das alles keine Sorgen, nicht nur, weil es »normal« ist, sondern auch, weil ich jede Laune, jede Reaktion meines Gerippes mit distanziert-interessierter Resignation zur Kenntnis nehme.
Aber ich wüsste doch gern, wie sie es geschafft haben, meine Haxe zu begnadigen, nachdem sie sie erst mal guillotiniert hatten; was sie wohl an Schrauben, Plastik oder Stiften eingebaut haben, um sie wieder auf Vordermann zu bringen, und was das für ein in meinem Körper vergessenes Instrument ist, das mich hin und wieder auf ungeahnte, schwindelerregende Höhen des Schmerzes schickt. Bei jeder Antibiotikumspritze kommt der Schmerz der Tuberkuloseimpfung aus der Kindheit – der schlimmste, den ich damals kannte – in x-facher Stärke zurück. Oder ich denke an die Benzininjektionen, an meine Selbstzerstörungsversuche, an das, was ich zu Rolande sagte: »Wenn es
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