Astragalus
was ich von ihm weiß, mit dem zusammenbringen, was ich von ihm sehe? Ich habe einen – steifen – Fuß in das Leben eines Gauners gesetzt, und alles darin überrascht, verwirrt mich … Julien, ein Einbrecher? Und dennoch hat die Macht der Knete, die er nachts auf gefährlichen Mauern kassiert, mein Bein geheilt. Wenn man nicht sozialversichert ist, blecht man in der Chirurgie acht oder neun Riesen pro Tag, dazu kommen die Pension bei Pierre und alle möglichen Kosten … Julien macht mir ein goldenes Bein. Trotzdem verweigere ich die seligmachende Dankbarkeit. Schließlich weiß ich, dass ich imstande, sogar verpflichtet gewesen wäre, das Gleiche zu tun, wenn ich in einer eisigen Frühlingsnacht im Licht meiner Scheinwerfer einen Mann getroffen hätte, der mich braucht, um seine Befreiung zu vollenden.
»Ganz ehrlich, wenn du alt und hässlich wärst, wäre es dasselbe gewesen …«
O ja, mein Lieber. Und es wäre noch schöner gewesen, ich weiß. Wenn ich dich unglücklicherweise liebe oder wenn du, noch schlimmer, anfängst, mich zu lieben, wirst du immer alles verderben, immer ablehnen, aus tausend eingebildeten und falschen Gründen. Das ist falsch, das ist falsch! Bezahlen wir halt den Tribut der Jugend, bleiben wir sehr zärtliche Geschwister, begraben wir jede Erinnerung, wenn du Wert darauf legst.
Julien trällert: »Oh, wenn nur dein Gips nicht wär …«
Du nimmst mich mit, das ist keine Frage mehr.
… Und schon sind wir wieder bei Pierre, in unserem Zimmer. Ich hocke auf dem Boden, und Julien sitzt auf dem Bettrand, wir berühren uns nicht, nur der zerstreute Kamm seiner Finger fährt mir durchs Haar. Es ist sehr warm. Träge reihen wir die Sätze aneinander, sprechen von erholsamen und erfrischenden Dingen, von Büchern, von unseren die Zelle umkreisenden Reisen, dann von kalten Dingen, verlassenen Wegen, vergeblichen Wallfahrten … Ich bin tot und verleugnet. Für mich beginnt alles mit diesem Tod unter den schwarzen Bäumen, alles andere … alles andere ist mit dem vergraben, was man von mir wusste, was man sucht. Was für ein Leben könnten Fotos und Fingerabdrücke haben? Das ist alles, was von vorher bleibt, aber … Scheiße! Es bleibt trotzdem sehr gut. Und jetzt auch noch diese Haxe …
»Überleg mal, mit meinen Krücken komme ich doch überall durch. Später könnten wir einen falschen Gips nehmen …«
»Damit es noch echter aussieht, hätten wir es dir ganz abschneiden und deinen Strumpf mit Sicherheitsnadeln feststecken können. Aber sag mal, wir könnten doch fast einen Strumpf über den Gips ziehen!«
Skeptisch betrachte ich meinen Stiefel. Er ist wirklich hübsch, von noch makellosem Pastellrosa, die Bügel mit frischem Pflaster angeklebt.
»Das ist natürlich besser als das, was es mal war …«
Der Tabak trocknet unsere Münder aus. Wir rauchen trotzdem, ein Automatismus. Nini hat uns einen Aschenbecher gewährt, eine gläserne Baruntertasse, flach und trostlos. Sie quillt schon über.
»Pass auf, mach keine Asche auf den Boden, sonst meckert sie morgen wieder rum. So geht’s besser.«
Und Julien zieht die Schüssel an ihren Eisenfüßen unter dem Waschbecken hervor. Wir werfen unsere Zigaretten hinein. Wir sind geläutert, wir haben Zeit, die warme, stehende Zeit, die Zeit, die Minute für Minute vergeht, flüsternd, ohne Lärm, ohne Hektik.
7
So lange, wie diese Haxe schon im Dunkeln ihre kleine Instandsetzung vollzieht, muss sie tausendmal solider sein als die andere, die niemals so viel Zuwendung bekommen hat. Ich verlange für sie von Nini Stricknadeln, lasse ihr einen Liter Eau de Cologne pro Woche kaufen und entwende in der Küche ein Messer.
Es juckt da drinnen. Ich kratze mit meiner Klinge, dann gieße ich am Schienbein und der Wade entlang Ströme von Sandel- oder Lavendelöl. Pierre schnuppert voller Verachtung: »Mal wieder beim Parfümieren!«
Ich schlinge die Mahlzeiten hinunter und verdrücke mich mit meinen Krücken vor oder hinter das Haus. Wenn Pierre weg ist, um den Braven zu spielen, und Nini ihren Haushalt macht, ziehe ich den Bademantel aus und lasse mich nackt, mit geschlossenen Augen unter dem glühenden Himmel bräunen. Schweißrinnsale auf meiner Haut vereinigen sich und fließen ins Gras, mein Gips spannt sich und wird weich.
Ich humple bis zum Waschhaus, tauche in die Wanne, das Bein im Trockenen auf dem Rand. Es ist wirklich ernst, ich lebe zerrissener denn je. Die Stifte gehen durch die Knochen, und ich könnte mich mit einem
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