Astragalus
und nach unten geschlagen hat: »Fieber messen!«
Das Krankenhaus übernimmt wieder die Macht, die Eindringlinge machen sich davon. Ein paar Widerspenstige verharren in einer extralangen Umarmung, zupfen ein letztes Mal die Blumen auf dem Nachttisch zurecht … Sie nerven mich, sie sollen abhauen, damit die Damen wieder zurückkommen, wieder Leidensgenossinnen werden, wieder gleich mir der Einsamkeit, den Zwängen der Behandlung und dem Schnurren der leeren Stunden ausgeliefert sind.
»Geht’s mit deinen Zimmergenossinnen? Nicht zu neugierig?«
»Wenn du weg bist, werden dir die Ohren klingen … Die Frau im Nebenbett ist, wie du siehst, Mutter, Großmutter, Tante, Schwiegermutter. Ihr Gang ist immer vollgestopft mit Verwandten. Sie hat einen schlecht zusammengeflickten Knochen; sie ist zu früh gelaufen, und dann mussten sie ihr eine Schraube einsetzen. Aber lassen wir die Delikte beiseite.«
»Und was erzählst du ihnen von dir?«
»Ein langes Märchen: Ich war bei meiner Schwester, ich habe mit dem Hund gespielt, er ist die Terrassentreppe runtergerannt – ich orientiere mich am Grundriss von Pierres Haus. Um schneller zu sein, bin ich auf den Hof gesprungen, wissen Sie, meine Dame, das hatte ich schon tausendmal gemacht …«
Ich musste das im OP erzählt haben. Gestern sagte der Assistenzarzt zu mir: »Das kommt davon, wenn man mit Hunden spielt.«
Ich erzähle weiter: »Nini und du, ihr seid meine einzigen Besucher von draußen, aber manchmal kommt ein Assistenzarzt oder ein Krankenpfleger zum Quatschen. Da gibt es übrigens einen kleinen Pfleger …«
Julien zuckt unmerklich, seine Pupillen werden ganz dunkel.
»… er hat mir versprochen, seine Kodak mitzubringen. Das ist doch nett, oder? Ein Erinnerungsfoto.«
»Sag mal, geht’s noch? Dein Bild hängt in jeder Polizeiwache, ist dir das klar? Du bist wirklich eine verrückte Göre. Ich verbiete dir, dich mit diesem Kerl zu amüsieren.«
Ich bestehe nicht darauf, aber ich bin ein bisschen enttäuscht; ich hätte es lieber gesehen, wenn Julien erst das Foto beschlagnahmt hätte. Mein Foto!
»Na gut, ich lass mir die Negative geben, wenn du unbedingt willst.«
»Dir ist hoffentlich klar, dass es strafbar ist, jemanden zu verstecken«, fährt Julien flüsternd fort. »Nini und Pierre sind vielleicht bescheuert, aber Fakt ist, dass sie deinetwegen eine Menge riskieren, das musst du in jeder Sekunde und bei jedem Wort, das du sagst, im Hinterkopf haben.«
Mein Gott, er nervt! Ich antworte: »Komm, es reicht, Moralpredigten höre ich genug. Sag mir lieber, was du bist.«
»Wie? …«
»Ja, mein Cousin, mein Schwager, was soll ich ihnen sagen?«
Julien lächelt, seine Augen werden wieder klar. Er legt die Hände um mein Gesicht und hält es fest, unsere Blicke verhaken sich ineinander, lachen dasselbe Lachen, kommen einander näher … Oh, ich liebe diesen Kuss. Sankt Thermometrus, lass meinen Besucher da, ganz nah bei mir, unter dem Bügel!
Julien zieht sich zurück, verdreht die Augen und flüstert mit gespielter Leidenschaft: »Meine Braut …«
Das erkläre ich später den Frauen. Madame Schraube und Madame Spiegel überschütten mich mit Komplimenten und guten Wünschen für unsere Jugend: »Sie sind wirklich ein hübsches Paar.«
»Wenn Ihre Kinder so lockig werden wie Sie, und dazu die Augen des Vaters … Mein Gott, haben Sie schöne Haare!«
»Ja, heiraten Sie ihn, nur zu. Er sieht so nett aus und so ehrlich.«
»Hat er eine Stellung?«
O ja! Eine sehr gesuchte Stellung. Die viel einbringt. Um die seltenen Besuche zu rechtfertigen, erkläre ich, dass mein Verlobter geschäftlich unterwegs ist. Dann bitte ich Madame Schraube, mir ihr Messer zu borgen, um den Kuchenkarton zu öffnen, den Julien auf dem Nachttisch hinterlassen hat. Es ist am besten, ihnen den Mund mit Buttercreme zu stopfen.
6
Wenn die Zeitungs- und Croissantverkäufer da gewesen sind, sehen wir bis zur Besuchszeit nur noch Krankenhauspersonal. Jeden Tag macht der Assistent des Professors mit den jüngeren Ärzten seinen Rundgang; aber den Assistenten würdigen wir keines Blicks. Für uns existiert allein Gottvater, er, der die Station getauft, er, der uns neu erschaffen hat, mit seinen eigenen oder mittels fremder Finger. Gott, der den Plan für unsere Operation ersonnen, sie unter verschiedenen Verfahren ausgewählt hat. Er hat unsere Röntgenbilder bis ins Knochenmark durchsucht, während unsere Gerippe reglos ruhten und nicht ahnten, dass sie durchleuchtet
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