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Astragalus

Titel: Astragalus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albertine Sarrazin
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nicht so läuft, wie ich will, setze ich meine Haxe aufs Spiel, ich lass mir ordentlich eins mit dem Hocker drüberziehen …«
    Mein Wunsch wurde erhört.
    Manchmal fragt man Gottvater: »Monsieur …« oder: »Professor …«
    Er hört nie zu. Einer seiner Satelliten verlässt dann sein Kielwasser, kommt zu einem und erstickt jede Frage mit einem schlichten, beschwichtigenden Satz, gleichbleibend optimistisch und unkonkret: »Wann Sie wieder laufen können? Sicherlich bald, bald. Noch ein klein wenig Geduld. Was wir mit Ihnen gemacht haben? Auf jeden Fall wunderbare Arbeit. Ein sehr schöner Eingriff, oder?« Und der Chor der Untersatelliten stimmt zu.
    Ich fange an, ihren Attributen zu misstrauen: Je wunderbarer es für sie ist, desto schwerwiegender ist es für uns. Uns fehlt der Klinikverstand …
    Ich habe das Gefühl, dass sich der Chef ziemlich lange an meinem Fußende aufhält. Er nimmt meine Röntgenbilder, tritt ans Fenster, um sie ins Licht zu halten; ich bin durch die Flut weißer Kittel, die andächtig seinen Erklärungen lauschen, von ihm getrennt, und er spricht so schnell, so leise, so verschlüsselt, dass mein Fuß in unverständliche Splitter zerspringt und ich verzweifle. Ich werde wütend, ich denke, dass er eine Schau abzieht, dass er mit so korrekten Handschuhen und so weißen Leinenschuhen um die Knöchel unmöglich direkt aus dem OP kommen kann. Trockene Sprache, kurze Sätze, karges Lächeln, er ist der Wunderdoktor aus meinen Kinderbüchern.
    Einmal hat er aber doch mit mir gesprochen. Ich hing seit zehn Tagen im Streckverband, die Ferse von einer Art Stricknadel durchbohrt, deren Enden mit einem Hufeisen verbunden waren, von dem eine Trosse über eine Rolle führte, an der ein Gewicht von sieben Kilo hing. Ich steckte bis zum Po in einem Eisengerüst. Mein Oberkörper war tiefer gelegt, denn man hatte die Beine am Fußende erhöht. Ich steckte in einer Zwangsjacke … wo ich so gern entspannt auf dem Bauch schlafe.
    Meine Zimmergenossinnen trösteten mich. Der Streckverband sei natürlich lästig, aber das sei nichts im Vergleich zu einer Operation. Sie Glückspilz, man hat Ihnen einen Stift eingesetzt, Sie werden der Operation entgehen … Ich wollte gerne tauschen. Ich hatte genug davon, von meiner Trosse gezogen und gestreckt zu werden.
    An jenem Morgen sah mich der Chef: »Wie alt sind Sie?«, fragte er mich plötzlich und pochte mit meinem letzten Röntgenbild an das Bettgitter. Er überhörte allerdings meine Antwort, und während sich alle in seinem Kielwasser in Bewegung setzten, konnte ich nach Belieben rot und blass werden.
    »Gut, schicken Sie mir die Eltern der Kleinen«, warf er der Oberschwester hin, die seine Anweisungen sogleich auf meiner Karte notierte.
    Als meine Schwester zu Besuch kam, fuhr ich sie an, sie hätte sich als meine Mutter ausgeben sollen. Meinst du nicht, du bist alt genug, was wollen wir ihnen jetzt erzählen … Nini packte eine Schüssel mit Erdbeeren und Schlagsahne aus, und während ich mich damit beruhigte, ging sie ins Büro, um zu verhandeln. Sie kam mit glühenden Wangen zurück.
    »Alles geklärt«, sagte sie. »Ich habe die Genehmigung unterschrieben, sie machen es, sobald die Befunde da sind.«
    »Es?«, rief ich. »Was ›es‹?«
    »Ihr … ich meine, dein Bein wächst nicht zusammen, irgendwelche Knochensplitter. Die Oberschwester hat mir es nicht so genau erklärt. Aber … Sie werden dich in den nächsten Tagen operieren.«
    Die ganze Woche lang empfing ich in meinem Bett. Weil der Bügel jeden Transport unmöglich machte, kamen der Radiologe, der Kardiologe und die Blutabnehmerinnen aus dem Labor zu mir. Ich machte Pipi, wenn sie es wollten, ich starb mehrere Morgen hintereinander vor Hunger, während ich auf sie wartete, weil ich solche Angst hatte, meine Operation zu verpatzen.
    Schließlich, am sechzehnten Tag mit Stift, schluckte ich das morgendliche Nembutal und wartete dösend auf das Skalpell. Diesmal wusste ich, wie man bis zum OP überlebt: Man musste das Bewusstsein immer weiter runterfahren und es dann auf ganz kleiner Flamme köcheln lassen. Bloß nicht denken, in Zeitlupe die bunten Buchseiten umblättern, in dem Rhythmus, der verlangt wird, die Lider auf halbgeschlossen einstellen, nichts erzwingen, nichts zurückhalten. Um mich herum, in weiter Ferne, ging der morgendliche Trott weiter, Wagen, Tücher, Bettpfannen, Gerüche, sechs Sorten Eau de Cologne, ein von Urin und Medikamenten durchtränkter, ausgelaugter Duft.
    Am

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