Astragalus
vorbeigehen. Ist es wirklich so natürlich, so zwingend, diesen hier zu lieben? Was ist das, das da von seinem Körper zu meinem strömt und knistert, wo kommt es her?
Wir reden, Worte, die uns erzählen, uns ausliefern und die stumme Tiefe unserer Gefühle begleiten. Ich rede von mir, und er redet von sich – wir, das ist das Schweigen, das ist nachher. Drei Monate plus drei Monate, sechs Monate Trennung, das ist lange zu erzählen. Der Kellner hat das Neonlicht eingeschaltet und unsere Gläser erneuert, aber unser Heißhunger auf Worte lässt sich nicht stillen.
Julien erzählt mir ausführlich von seiner Verhaftung, den Verhören der Kripo, der Angst, die er um mich hatte.
»Wie der letzte Idiot hatte ich deine Nummer in meinem Notizbuch und das Notizbuch bei mir, wie immer. Keine Chance, es zu vernichten, ich hatte Handschellen, und sie sahen mir auf die Finger … Was sie mich mit dieser Nummer genervt haben! Schließlich habe ich die Wahrheit gesagt: dass es ein Hotel ist, das man mir empfohlen hat … Sie haben sofort angebissen: ›Ach so! Du fährst also nach Paris?‹ Ich habe geantwortet, ich hätte keine Zeit gehabt, weil sie mich unterwegs verhaftet hätten … Du kannst dir vorstellen, was ich für Schiss hatte, dass sie den Wirt ausfragen und die Gäste durchkämmen …«
Ich lache: »Mein Herz, du kannst wohl annehmen, dass ich nicht länger in der Gegend geblieben bin, sobald ich den Braten gerochen hatte! Sie hätten ruhig ins Hotel kommen können …«
(Jetzt, Jean:)
»Anstatt ein neues Versteck zu suchen, habe ich lieber auf dich gewartet und mein Zeug inzwischen bei einem Freier untergestellt. Ein netter Kerl übrigens, aber das ist kein Zuhause … Ich komme hier an wie üblich, siehst du? Ohne Namen, ohne alles, splitternackt oder fast, wie am ersten Abend … Ach so, warte, da ist ein bisschen Moos, habe ich für deine, ich meine für unsere ersten Ausgaben gespart.«
Ich gebe Julien das Paket in Zeitungspapier, versuche es ganz beiläufig und natürlich zu machen. Es ist schwierig, jemandem Kohle zu geben, fast ebenso wie zu kriegen. Wir wissen es zu gut, um nicht jedes Mal die kleine Komödie der Lässigkeit zu spielen. Ich weiß noch, wie Julien es bei Annie machte; er stopfte es mir in die Tasche oder in die Hand und sagte: »Da, kauf dir ein Paar Strümpfe.« Egal, wie viel es war, es war immer für Strümpfe.
Also sage ich: »Da, fürs Benzin … Und weil ich bei dir bleibe, kauf auch eine etwas größere Karre als die andere. Wo ist die eigentlich?«
»Eddie hat sie von den Polypen abgeholt; die Mistkerle hatten sie abgeschleppt. Ich musste eine Vollmacht ausstellen, beim Untersuchungsrichter die Genehmigung beantragen … Jedenfalls, weil Eddie sich tapfer geschlagen hat und Ginette sich ums Verrecken gern rumkutschen lässt, habe ich gesagt, sie sollen sie behalten; sie fahren sie, bis sie fertig ist.«
»Wir fangen mit einer neuen an, einer nagelneuen …«
»Vergiss es! Einen Schlitten kauft man gebraucht, dann tut es einem weniger leid, wenn man ihn zu Schrott fährt. Ich gehe wieder in Paris zu dem Kerl, der mir den anderen besorgt hat. Jetzt …«
Julien steht auf, was den Kellner herbeieilen lässt. Er nimmt meine Jacke und reicht mir meine Tasche: »Jetzt hauen wir ab. Hier ist immer noch meine Stadt, und die Bullen kümmern sich hier besonders gut um mich … Ich brauche etwas Zeit, ehe ich wieder im Bau lande, Anne …«
»Bis ein neuer Panzer wächst … Ich bin heute Abend gepanzert; mir ist es scheißegal, dorthin zurückzugehen, jetzt, wo wir hier waren …«
»Red keinen Mist, und küss mich: Hallo Anne …«
Vor lauter dringenden Worten hatten wir daran noch gar nicht gedacht. Der Zeiger hat einen Kreis gemacht, die Nacht ist schon hinter den tiefen Sonnenstrahlen zu ahnen, auf der Terrasse sitzen neue Leute hinter neuen Gläsern, in denen Blasen aufsteigen oder Strohhalme stecken, gelbe, orangene, rote, goldene Gläser.
»Nicht zu müde, die Haxe?«, fragt Julien.
Es gibt eine ganze Vergangenheit von Gesten, von kleinen, zärtlichen Ritualen, die Julien um mein Humpeln entwickelt hat: Im Gedränge geht er vor mir her, um meinen Schritten einen von Anrempeleien geschützten Weg zu bahnen, er hält meinen Arm, als würde er mich stützen, geht auf der Seite, auf die ich mich beim Gehen neige, passt seine Schrittlänge der meinen an …
Aber heute Abend sind wir beide Genesende. Dieses Vierteljahr im Knast ist wie eine Verletzung, deren Narbe uns prägt
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