Astragalus
»Julien hat mir extra deswegen geschrieben. Sie sollen ein Treffen irgendwann nach dem 21. festlegen, ich sage es ihm. Er will nicht, dass Sie sich in die Nähe des Knasts trauen; man kann nie wissen, sie könnten ihn pro forma beschatten …«
»Ich werde mich schon nicht vor die Tür stellen. So bescheuert bin ich nicht … Aber warum nicht in der Stadt, irgendeine Kneipe, keine Ahnung?«
Plötzlich fühle ich mich wieder ausgeschlossen, wie eine Bettlerin ans Gitter geklammert, dahinter der Clan, dabei der Schatten, es tut weh … Ich richte mich auf, angle meinen Kalender aus der Tasche und blättere eine Weile. Zum Glück gibt es am 20. bis 25. Juni viel Gekritzel: Termine, Freier, Nummern und Uhrzeiten. Ich tue so, als überlegte ich, lasse mir Zeit:
»Gut, am 24. abends habe ich Zeit. Merken Sie sich das? Das ist einfach, Johannistag … Sagen wir, hier …«
»Bloß nicht!«
»Ich meine, in der Stadt, zum Beispiel in der Bahnhofskneipe … Sagen wir um sieben?«
Ich habe ihn nicht allzu lange in Verlegenheit gebracht. Erleichtert schlägt Eddie wieder seinen Kupplerton an:
»Drei Tage! Und wenn Julien dich früher sehen will? Wie erreicht er dich?«
Ich werde ihm doch wohl nicht Jeans Adresse geben.
»Dann muss er halt warten. Ich warte schließlich auch. Nicht vergessen: Johannistag, Anne, neunzehn Uhr.«
Wir hören noch ein paar Platten, Eddie sagt weiter abwechselnd »du« und »Sie«, wir sind beide ziemlich dicht.
… Johannistag, das ist morgen. Ich möchte meinen Kopf, meine Eingeweide, meine Adern leeren, meine Haut endlos waschen und bürsten. Ich möchte, dass mich Julien ganz und gar ausfüllt, dass er über mich verfügt und im Gegenzug verfügbar ist, ganz und gar … Ich verfasse einen letzten Brief, nach denen der Einsamkeit, der Sonne, der Langeweile – all diese Blätter, die ich nicht abgeschickt, aber mit der Gewissheit aufgehoben habe, dass Julien sie eines Tages lesen wird. Im Gefängnis liest jeder seine Post mit zu intensiver, selektiver, verfälschender Aufmerksamkeit.
Der Julien im Knast ist nicht der Julien, den ich kenne, auch nicht der, den ich wiedererkennen werde, auch wenn er sich weiterhin in Nebel hüllt; diesmal wird dieser Nebel eine andere Dichte haben. Wie die Mädchen im Bau, die wir am Abend vor ihrer Freilassung in die Entlassungszelle begleiteten, wird Julien vielleicht auch diesen seltsam nackten Ausdruck haben, das Gesicht eines Mannes, der die Waffen gestreckt hat, weil er schließlich der Sieger ist.
Na, ich mache einen ganz schönen Aufriss wegen eines erbärmlichen Vierteljahrs im Schatten! … Als mich Julien nach meinen Jahren im Bau aufgesammelt hat, sah ich nicht gerade siegesgewiss aus … Ich frage mich, ob ich irgendwann die Waffen strecken werde.
Morgen, morgen … Ich liege wie üblich auf dem Bett, das Laken bis zum Hals hochgezogen, damit Jean keine Lust bekommt, mich zu vernaschen. Wortlos starre ich an die von Rissen durchzogene Decke. Jean läuft mit schweren Schritten durchs Zimmer, stellt hier was um, räumt da was auf: Als Stummfilm und in dreifacher Zeitlupe gefilmt ist es wie ein Nervenzusammenbruch für ihn und mich. Ich sage, er soll sich zu mir setzen, und lese ihm Auszüge aus meinen Briefen vor.
»Keine Frage«, sagt er, »du hast Stil.«
»Glaubst du, dass ihm mein Geschreibsel gefallen wird?«
»Ich würde gern so was bekommen.«
Ich erinnere mich an den Wert der Briefe, an die Inbrunst, mit der man sie verfasste oder erwartete. Aber im Knast murmeln die Gedanken, brummen die Bilder wie dicke, eingesperrte Insekten; manche verjagt man, manche fängt man ein, manche spießt man auf, aber auf jeden Fall verstümmelt man sie. In den Briefen, die man erhält oder schreibt, betont, verschweigt, entstellt man … Hättest du gewollt, dass ich dir schreibe, Julien, in dieser Zeit, wo dein Kopf voll vermeintlicher Schätze war? In der Zelle geschmiedete Absagen oder Entscheidungen: Manchmal reicht eine Stunde Freiheit, um sie aufzuweichen … Wenn ich heute an deine Worte glaube, dann nur, weil ich den Willen, das Bedürfnis habe, daran zu glauben. Morgen …
»Nimmst du deinen Koffer mit?«, fragt Jean.
Er ist überzeugt, dass ich für immer gehe. Und wirklich, wenn ich meine Sachen mitnehme, warum dann hierher zurückkommen? Kein Faden bindet mich mehr an diese Bude. Jean hat mir vorhin den Rest der Knete gegeben, die er in einem extra dafür gebauten raffinierten Versteck aufbewahrt hatte, dem ich ab und zu einen
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