Astragalus
Kontrollbesuch abstatten musste. Das Geld ist in meiner Tasche, der Koffer ist schnell gepackt … Jean wird sich über mein Glück freuen, heulend natürlich, und nichts tun, um mich zurückzuhalten; das wird hart. Andererseits weiß ich nichts über Juliens Pläne und bin im Voraus mit allem einverstanden: Kann sein, dass wir weit weg fahren, aber auch, dass wir in Paris oder Umgebung bleiben, und nicht unbedingt zusammen; die Überwachung, der Ausbruch, das Bedürfnis zu schlafen und die Wäsche zu wechseln … Ich setze mich im Bett auf.
»Ich lasse mein Zeug hier«, sage ich. »Kannst du bitte mein Kostüm in die Reinigung bringen? Mach dir keine Sorgen, Jean, ich komme bald wieder …«
Julien, sperr mich ein, lass mich nicht wiederkommen, halt mich davon ab zu tun, was ich nicht mag … Vielleicht schaffen wir es, füreinander wachsam und eifersüchtig zu werden, zu reagieren und zu weinen wie alle anderen …
Wie langsam sich der Zeiger dreht! Das Laken klebt an meiner Brust, drückt mich nieder. Ich würde gern schlafen, ein Mineral sein, eine steinerne Hülle um mein Herz, das vor mir her springt und rennt. Nimm ihn, Julien, nimm den Weg, der ich bin, stürz dich auf ihn, und ich trage für immer jeden deiner Schritte.
… Während ich ganz langsam Wasser ins Glas gieße, steigt die Flüssigkeit und wird trüb. Das Glas ist mein Farbnapf. Ich amüsiere mich damit, das Bistro und die Tische in gelbe Wasserfarbe zu tauchen; die Jacketts der Kellner und die Blusen lasse ich weiß, alles andere bespritze ich mit Farbe: reglose Palette der Getränke auf den Regalbrettern, Gekritzel ihrer Etiketten, dunkle Töne von Taschen und gebräunter Haut, helle Leichtigkeit der Kleidung.
Mir dreht sich der Kopf, ich hatte seit drei Tagen nichts getrunken. Ich greife nach meinem Glas, stelle es wieder hin; mit diesem Glas will ich auf das cin-cin unseres Wiedersehens warten. Die vorigen sind geleert, abgeräumt und gespült, dieses bleibt voll, passt sich der Umgebung an, deren Einzelteile sich Stück für Stück zusammensetzen, seit ich hier sitze und auf die Uhr über dem Tresen starre. Fünf vor sieben, in fünf Minuten halte ich den Film an. Die Leute im Bahnhof, die Autoschlangen, das Pfeifen und der Rauch von den nahen Gleisen, alles umschließt mich wie eine Schatulle, wo ich doch gern wie ein Ohrclip irgendwo hängen und glänzen würde. Heute Abend löst sich der Schatten auf, die Sonne überflutet mich … Drei vor sieben.
Ich werde nicht mehr zu dieser Uhr sehen, auch nicht zum Rein und Raus an der Terrassentür. Julien wird in einer dieser Menschentrauben kommen, meine Augen erwarten ihn gesenkt, blind. Ich ziehe meinen Blick, meine Hände und meine Füße an mich, rolle mich zusammen, und wieder gleitet die Umgebung mit den Sekunden vorbei, ohne mich zu halten, Flüssiges auf glatter Fläche, Vages auf Unscharfem … Ich bin da, das stimmt. Ich habe meinen Weg wiedergefunden, nachdem ich durch dunkle Abwege gehumpelt und geschlichen war; aber immer bin ich auf ihn zugegangen, gelenkt und bedrängt von einem Fixpunkt. Ich bin immer auf Kurs geblieben, hallo Julien!
Er schaut auf seine Uhr: »Das ist, glaube ich, das erste Mal, dass ich pünktlich bin …«
Er hat sich neben mich auf die Bank geschoben, bevor ich ihn fertig wiedererkannt habe. Ich versuche hastig, den Anschluss zu finden, den Faden der Wirklichkeit zu packen, aber mein Kopf leert sich durch die Augen. Ohne irgendwas sagen zu können, sehe ich Julien an: Alle Fragen, alle Ängste, alle Versprechen schmelzen, verschwinden und erfüllen sich in der Sekunde, da wir uns ansehen.
Der Kellner kreist wie ein großes schwarz-weißes Insekt, unweigerlich angezogen von den Tischen, auf denen ein Glas fehlt; für ihn rechtfertigt mein Ricard nur mich; Julien muss für den Kellner auch existieren, den Kellner, der mit lauernder Gleichgültigkeit herumstreicht, mit seinem Tablett und seinem Lappen hantiert, verlassene Stühle herumschiebt. Er ist unerträglich.
»Herr Ober!« Ich frage Julien, als Einschub, was er trinken will, sage »Noch ein Ricard«, der Kellner zieht ab, Julien existiert immer mehr.
Ich erkenne ihn kaum. Er ist blass, der Schnurrbart ist gewachsen wie ein Hütchen, das seine Lippen liebkost. Sein Gesicht ist ausgeruht, wie gereinigt, er schüchtert mich ein, wie etwas Heiliges oder Verbotenes. Er ist es, Anne, deine Liebe, aber auch einer dieser Typen, wie sie jeden Morgen aus einem Gefängnis kommen, wie sie an der Bar
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