Astrella 02 - Brudernacht
hätte es Prügel bekommen.
Vielleicht war der Klaps nicht stark genug, denkt Schwester Benedikta, deren Ordenstracht sie jünger aussehen lässt. Augenringe verhindern das Strahlen ihrer braunen Augen. »Kinder sind zäh«, sagt sie. »Viel zäher, als man denkt.«
»Aber dieser Teufelsbraten …«, Schwester Kordula hält kurz inne, »dieses Kind ist besonders zäh. Es isst kaum etwas und kann trotzdem den ganzen Tag über schreien.«
»In den letzten Tagen hat es etwas weniger geweint.«
»Meinst du?«, fragt Schwester Kordula mit zweifelndem Unterton in der Stimme.
»Ja. Besonders dann, wenn die Mutter es besuchen kommt.«
»Ich glaube, du täuschst dich. Als die arme Frau das letzte Mal da war, kam sie schon nach fünf Minuten aus dem Zimmer heraus. Mit Tränen in den Augen.«
»Schade. Dass ein Kind aber auch so schreien kann.«
»Herr Gandel, schön Sie zu sehen!«
Hauptkommissar Krähmanns Stimme klang eher gleichmütig als erbost. Der angesprochene junge Polizeimeister huschte an seinen Platz im Rapportraum des Polizeireviers in der Rudolfstraße.
»Es reicht eben nicht aus, nach Dienstende als Letzter vom Feierabendbier aus der Kantine zu kommen. Wenn Sie den gleichen Eifer bei Dienstbeginn an den Tag legen, werden Sie vielleicht alt hier.«
Die sechzehn anderen Kollegen, unter ihnen Eck und Obst, lachten laut oder schmunzelten. Indes konnte Gandel seine Verlegenheit nicht verbergen. Jeder, außer ihm, wusste: Krähmann war nicht sauer auf den jungen Kollegen. Sein ironischer Tadel gehörte einfach dazu, war Teil eines spielerischen Lernprozesses, der zur Abhärtung der Jungen diente, damit sie früh genug vorbereitet waren für die Momente draußen auf der Straße, wenn selbst aus scheinbaren Kleinigkeiten schnell blutiger Ernst werden konnte.
Gandel wusste von alldem noch nichts. Er grämte sich über Krähmanns Gemeinheit und das Lachen der Kollegen. Als Jüngster war es seine Aufgabe, nach dem Feierabendbier die leeren Flaschen wegzuräumen. Also hatte er zwangsläufig bis zum Schluss bleiben müssen. Nun wurde er hier vor versammelter Mannschaft völlig ungerechtfertigt von Krähmann runtergemacht, und das um sechs Uhr morgens.
»Das Wichtigste von der Nachtschicht habt ihr bereits dem Bericht entnommen«, fuhr Krähmann fort. Er war der Leiter der hier versammelten A-Schicht, für die der Schichtkalender an diesem Tag einen Früh-und Nachtdienst vorsah. Wie üblich stand zu Dienstbeginn der Rapport auf dem Plan, während dem die wichtigsten dienstlichen Angelegenheiten kurz besprochen wurden.
»Wieder eine Vergewaltigung. Diesmal an einer Zwanzigjährigen«, sprach Krähmann weiter. »Am Schussendamm. Sie war auf dem Heimweg von einem Discobesuch.«
Allgemeines Kopfnicken war die Antwort. Während des Frühdienstes verliefen die Rapporte regelmäßig am ruhigsten. Zwar waren alle – bis auf die insgesamt neun Kranken, Abgeordneten und Urlauber – anwesend, aber richtig munter schienen um diese Zeit nur die wenigsten zu sein. Daran änderte auch diese neuerliche Vergewaltigung einer jungen Frau nichts. So wie es aussah, würde es nicht die letzte bleiben. Zudem war die Kripo die sachbearbeitende Dienststelle. Trotzdem: Es juckte sie durchaus in ihren Händen, den Täter zu erwischen. Immerhin hatten sie alle entweder Ehefrauen, Freundinnen oder Töchter, und allein die Vorstellung …
Manfred Eck, der im Gegensatz zu seinem Streifenpartner Obst zu den wenigen Munteren gehörte, rief sich die Einzelheiten in Erinnerung, die er dem Neuigkeitsbericht entnommen hatte. In diesem wurden sämtliche angefallenen Tätigkeiten der einzelnen Dienstgruppen während ihrer Schicht schriftlich festgehalten: Gegen zwei Uhr in der Nacht hatte ein Autofahrer angerufen und mitgeteilt, ein Betrunkener würde mit roten Stöckelschuhen mitten auf der Meersburger Straße stadteinwärts torkeln. Eine Streifenbesatzung war daraufhin zu der angegebenen Stelle gefahren und hatte den Betrunkenen auf der Eisenbahnbrücke auch tatsächlich entdeckt. Da dessen Trunkenheit noch nicht zu fortgeschritten war, hatte er den Polizisten erklären können, wo genau er die neuwertigen Schuhe gefunden hatte: am Übergang von der Uferstraße in den Schussendamm. Nachdem seine Personalien überprüft waren, fuhren die beiden Kollegen zu der angegebenen Stelle, entdeckten in der Nähe eine zerrissene Bluse und stießen Minuten später auf die schlimm zugerichtete bewusstlose junge Frau.
Einige der Einzelheiten hatte Eck
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