Astrella 02 - Brudernacht
du raus und aufs Klo gehen. Aber: Leise!«
Doch der Bub geht nicht hinaus aufs Klo, auch wenn seine Blase noch so voll ist. Er weiß, dass der Hund ihn in Stücke zerreißen wird, sobald er auch nur eine Fußspitze von ihm wahrnimmt. Stattdessen tastet er sich vor bis zur hintersten Ecke des alten Kohlenkellers und pinkelt dort. Nur stoßweise, damit es nicht zu laut wird. Für kurze Zeit verstärkt sich der Geruch von Kohlenstaub, bevor er sich mit dem vom Urin verbindet. Pinkeln muss er. Beim ersten Mal hatte er sich in die Hose gemacht. Und die anderen Kinder haben ihn daraufhin tagelang ausgelacht.
Wie lange war es her, seit er das letzte Mal solch einen Rausch gehabt hatte? Ein Jahr, zwei Jahre, noch länger? Dann aber waren es mindestens fünf Jahre, denn im Gefängnis hatte er keine Gelegenheit für einen Vollrausch gehabt.
Seine schwere Zunge mühsam in die dazu notwendigen Falten und Kurven biegend, bat Astrella den verständnisvoll blickenden Wirt, ein Taxi zu bestellen. Mirko, der Wirt und Eigentümer vom ›Dalmacija‹, nickte, trocknete ein Glas ab und nahm den Hörer zur Hand. Eine halbe Minute später teilte er Astrella mit, das Taxi sei unterwegs. Danach fragte er ihn in zurückhaltendem Ton, ob er Kummer habe.
»Du weißt doch, Mirko, dass ich nie Kummer habe!«, antwortete Astrella, und beide wussten, dass das nicht stimmte. Das ›Dalmacija‹ am Ravensburger Untertor war Astrellas Lieblingslokal und sie kannten sich inzwischen gut genug. Natürlich hatte er Kummer. Nachdem er am Nachmittag in das leere Haus zurückgekehrt war und gerade eine Dusche nehmen wollte, war es urplötzlich über ihn hereingebrochen. Auf einmal war alles zuviel für ihn geworden, ein riesiges schwarzes Loch hatte sich vor ihm aufgetan, und ungebremst war er hineingefallen. Die eingebrochenen Äste, die diesen Abgrund bedeckten, hatten jeder einzelne ganz bestimmte Namen: Anne, Sandra, Karriere, Gloria, Gefängnis, Versagen, Frau Klimnich, Vergangenheit, Zukunft . Diese Äste hatten sich in Prügel verwandelt und ihn gnadenlos in dieses tiefe schwarze Loch hineingeschlagen. Die Dusche hatte daran auch nichts ändern können. Deshalb war er kurz nach acht zuerst ins Kino und danach in das kroatische Speiserestaurant gegangen, um nur nicht nach Hause zu müssen, wo ihn Einsamkeit und die Sehnsucht nach Anne erwarteten. Mirko und seine nette Frau hatten ihn beim Hereinkommen freudig begrüßt und sofort seinen Seelenzustand erkannt. Erst nach Mitternacht hatte er sich von Mirko überzeugen lassen, dass das Bett am besten für ihn war. Nun war er da und nichts hatte sich verändert: Immer noch gab es die beiden Morde an zwei unschuldigen alten Männern, die möglicherweise miteinander zusammenhingen, möglicherweise aber auch nicht. Unvermittelt hakten seine Gedanken bei dem Wort ein, das er hinsichtlich der beiden alten Männer benutzt hatte: Unschuldig!
Wie konnte er einfach annehmen, dass die beiden unschuldig waren? War das nicht nur ein Eindruck, den er bisher gewonnen hatte, weil ihn alle hatten? Wer sagte, dass sie tatsächlich unschuldig waren? Unter Umständen ging es ja nicht einmal darum, ob die zwei Mordopfer in einem strafrechtlichen Sinne schuldig waren. Es genügte bereits, wenn sie sich in den Augen eines anderen schuldig gemacht hatten. Dann waren sie zwar rechtlich unschuldig, hatten jedoch die Ursache gesetzt für jemanden, der sich nun zum Richter aufgeschwungen und die Todesurteile nicht nur gesprochen, sondern auch vollstreckt hatte. Wenn dem aber so war, gab es für die Lösung der Morde nur einen einzigen Ansatzpunkt: die Vergangenheit der Mordopfer! An dieser Theorie müsste sich auch nicht unbedingt etwas ändern, käme es noch zu weiteren derartigen Morden. Im Gegenteil: Es würden sich wahrscheinlich noch mehr Gemeinsamkeiten herausstellen, mithilfe derer der Täter schließlich einzukreisen und festzunehmen war. So verlief es immer, warum also nicht auch in diesem Fall?
Conny saß vor dem Spiegel und betrachtete ihr Gesicht, ihre schulterlangen blonden Haare. Beides sah wie unecht aus. War es wirklich vorbei? Worauf hatte sie sich nur eingelassen? Unter ihren Augen bildeten sich zwei Ringe, winzigkleine Falten an den Rändern. Sie war zu jung für diese Vorboten des Alters und Verfalls. Sie würde niemals alt werden, das hatte sie sich vorgenommen. Schon als Kind. Als sie dies einmal ihrer Mutter gesagt hatte, hatte sie ein spöttisches Lachen zur Antwort bekommen. So wie Erwachsene
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