Astrella 02 - Brudernacht
sich des Risikos durchaus bewusst, das er eingegangen war, indem er die Witwe die Tagebücher ihres Mannes allein hatte durcharbeiten lassen. Es war ohne weiteres möglich, dass sie etwas überlas. Da war zum einen die ihr bekannte Schrift des geliebten Mannes, die den Lesevorgang automatisch beschleunigte; zum anderen tauchte sie beim Lesen der Tagebücher in die gemeinsame Vergangenheit mit ihrem Mann ein, Erinnerungen wurden geweckt, Gefühle erwachten aufs Neue, Lachen und Weinen traten an die Stelle von Konzentration und innerem Abstand. Andrerseits wusste Astrella nur zu gut, wie wichtig es war, der alten Frau das Gefühl zu vermitteln, selbst etwas beizutragen. Wahrscheinlich war es sogar wichtiger als der erfolgreiche Abschluss ihrer Suche nach dem Mörder ihres Mannes.
»Sagen Ihnen die Buchstaben PD und W etwas, Frau Klimnich?«
»Nein. Josef hat Patientennamen offenbar nur mit dem Anfangsbuchstaben in seine Tagebücher geschrieben. Wahrscheinlich war es eine Marotte von ihm.«
»Woher wissen Sie das?«, fragte Louis, obwohl er die Antwort bereits kannte.
»Weil er es in den anderen Tagebüchern, die ich in den letzten Tagen und Nächten gelesen habe, genauso gemacht hat. Nur die Namen unserer Freunde und Bekannten hat er ausgeschrieben.«
»Wobei er in diesem Fall offenkundig eine Ausnahme gemacht hat. Zumindest was den Mann, diesen PD. betrifft. Denn zu diesem scheint er eine durchaus freundschaftliche Beziehung gehabt zu haben. Wenn man bedenkt, was er für ihn auf sich genommen hat.«
»Aber dann müssten wir ja unseren gesamten Freundes-und Bekanntenkreis näher durchleuchten. Und von denen leben viele nicht mehr.«
»Das stimmt, obgleich es auch ein Kind sein könnte. Das wäre dann heute jedoch auch schon um die dreißig Jahre alt.«
Frau Klimnich zuckte hilflos mit den Schultern.
»Wir könnten jetzt natürlich versuchen, die Namen zu erraten. Doch dass es sinnlos ist, brauche ich Ihnen nicht erst zu sagen. Andererseits muss diese Frage gar nicht so schwierig sein. Denn wenn es um eine Einweisung in ein Heim geht, müssen über diesen Vorgang auch Akten vorhanden sein. Und den ungefähren Zeitraum kennen wir ja dank des Tagebuches Ihres Mannes. Jedenfalls werde ich mich noch diese Woche hinter diese Sache klemmen. Nun bleibt neben vielen anderen offenen Fragen auch noch die folgende: Wie passt der Mord an diesem Lemsack zu dieser Sache? Was hat er damit zu tun? In dem Eintrag Ihres Mannes kommt kein ›L.‹ vor. Lemsack wird mit der Einweisung eines Kindes in ein Heim nichts zu tun gehabt haben, wobei ich mich selbstverständlich täuschen kann. Aber das werde ich herausfinden. Schließlich muss ich ja auch noch etwas zu tun haben.«
Bei dieser letzten Bemerkung lachte Frau Klimnich befreit auf. »Wollen Sie noch einen Kaffee, Herr Astrella? Jetzt habe ich vor lauter Aufregung völlig übersehen, dass Ihre Tasse leer ist. Entschuldigen Sie bitte.«
»Aber ich bitte Sie. Ich habe es selbst nicht bemerkt. Eine Tasse von Ihrem wunderbaren Kaffee trinke ich gerne noch.«
Leichte Röte hauchte über das Gesicht der Witwe. Hastig drehte sie sich um, ging zum Sideboard, holte die Kanne, schenkte Astrella ein und stellte sie dann wieder auf ihren Platz zurück.
»Trotz alledem dürfen wir eines nicht unter den Teppich kehren, Frau Klimnich.«
»Was?«
»Ihr Mann schreibt zwar, die Sache habe ihm gehöriges Kopfzerbrechen bereitet, aber er gesteht auch ein, dass das einfach eine für ihn unangenehme Arbeit gewesen ist. Und wenn es keinen weiteren Eintrag zu dieser Sache gibt, kann das auch heißen, dass es schlussendlich doch nicht ganz so schlimm gewesen ist.«
»Sie meinen, Herr Astrella, es ist kein Motiv erkennbar?«
Erneut musste Astrella über die Witwe staunen.
»Richtig! Und mit dem Motiv steht und fällt alles, was wir an Theorien aufbauen.«
»Sie meinen, wir haben nicht besonders viel, was uns weiterhelfen könnte, nicht wahr?«
»Leider! Andererseits brauchen wir glücklicherweise nicht alle Fragen jetzt und hier zu beantworten. Ich werde auch versuchen, beim Nachfolger Ihres Mannes an die Krankenakten von damals zu kommen, denn offenkundig war die Frau eine Patientin Ihres Mannes. Außerdem bekommen wir auf diese Art und Weise zumindest weitere und vollständige Namen, mit denen wir dann weiterarbeiten können. Sobald ich das alles geschafft habe, werde ich so frei sein, mich bei Ihnen zu einer weiteren Tasse Ihres vorzüglichen Kaffees einzuladen.«
»Oh, Sie sind ein
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