Asylon

lassen, hatte er sich das Leben
genommen. Der Ordo Lucis hatte aus dieser und weiteren ähnlichen Begebenheiten
die Erkenntnis gezogen, dass die zurückkehrenden Erinnerungen nicht in allen
Fällen verlässlich oder möglicherweise durch die Manipulation korrumpiert
waren.
    Lange Zeit war der Ordo Lucis
kaum mehr als eine Art konspirativer Debattierzirkel derjenigen gewesen, die
nicht daran glaubten, dass die Stadt und die Geschichte vom Surge die wahre
Realität waren. Doch dann war Scooter einer der Nazar in die Hände gefallen,
und alles hatte sich verändert: Aus dem Ordo Lucis war ein Schleuserring
geworden. Leuten, die das Risiko auf sich nahmen, ihre Visionen von einem
früheren Leben an der Realität zu messen, hatte man die Möglichkeit geboten,
dies zu tun. Leider, so hatte Scooter ihm eingestanden, war nie jemand in die
Stadt zurückgekehrt, um von seinen Erfahrungen draußen zu berichten. Doch
während Torn dieser Punkt misstrauisch machte, sahen sich die Mitglieder des
Ordo Lucis in ihrer Theorie nur noch bestärkt. Niemand war zurückgekommen, so
hatte man geschlossen, weil es eben draußen so viel besser war.
    Torn wusste nicht so recht, was
er von all dem halten sollte. Keinesfalls hatte ihn Scooter mit seinen mitunter
abenteuerlichen Mutmaßungen über die Gedankenmanipulation überzeugt. Aber am
Ende hatte sein Fatalismus gesiegt. Ob er nun in der Stadt durch die Kugeln
seiner Feinde starb oder von mordgierigen Hungerflüchtlingen umgebracht wurde,
die die Stadt laut offizieller Meinung von allen Seiten in Scharen belagerten,
war einerlei. Da konnte er Scooters Utopie immerhin eine Chance geben.
    Und nun stiefelte er auf einer
Straße entlang, die es laut der Geschichte vom Surge in diesem pfleglichen Zustand
nicht hätte geben dürfen, und er hatte noch keinen einzigen Hungerflüchtling zu
Gesicht bekommen. Er war gespannt, was sich hinter dem Horizont verbarg. Doch
selbst wenn es diese lebendige Außenwelt gab, von der Scooter ihm vorfantasiert
hatte, war nicht garantiert, dass sie für ihn mit der spärlichen Verpflegung in
seinem Rucksack auch erreichbar war. Nun, sagte er sich sarkastisch, wenn es
nicht so war, würde er dies sicherlich an den verrottenden Skeletten seiner
Vorgänger erkennen.
    Immerhin hatte Scooter ihm aus
dem Schatz seiner zweifelhaften Erinnerungen etwas sehr Persönliches mitgeben
können – nämlich seinen angeblich richtigen Namen. Billy, hatte Scooter gesagt. Du heißt Billy Curtis. Seither
war ihm der Name nicht mehr aus dem Kopf gegangen und unterlegte seine Gedanken
mit einem unablässigen Hintergrundrauschen. Wenn er ehrlich zu sich selbst war,
musste er eingestehen, dass er sich zu wünschen begann, Scooter hätte recht.
Billy … Klang das nicht seltsam vertraut?
    »Guten Tag. Ich bin Billy
Curtis«, sagte er laut.
    Wie zur Antwort frischte die
warme Brise auf und brauste wispernd in seine Ohren. Links vor ihm rollte ein
kugelrundes, blassgrünes Gebüsch über den staubigen Boden. Fasziniert folgte er
seinem Lauf, während es über die Felsen und Mulden sprang. Am Straßenrand wärmte
sich eine kleine Eidechse. In nordöstlicher Richtung konnte er am Horizont eine
kleine Hügelkette ausmachen. Je näher er ihr kam, desto weiter schienen sich
ihre Ausläufer in Richtung Straße zu erstrecken, auf der er sich bewegte.
    Wenn ich sie
vor Einbruch der Dunkelheit erreiche, sagte er sich, werde
ich dort lagern. Möglich, dass ich hier draußen sterben werde, aber heute ist
es noch nicht so weit, und besser, als Sputanos Killern in die Hände zu fallen,
ist es allemal.
    Bei diesem Gedanken begann er,
vergnügt vor sich hinzupfeifen.

    Der Kerl, der sie
geführt hatte, nahm Saïna die Augenbinde ab. Erleichtert atmete sie auf. Für
einen Tag hatte sie wirklich genug von den Dingern.
    Direkt vor ihr, in einem
zerschlissenen weiten Samtmantel, der mehr zu einem Märchenzauberer gepasst
hätte, saß ein bulliger Mann in den Fünfzigern, mit Glatze und buschigen
Augenbrauen, dem es ins Gesicht geschrieben stand, dass er es gewohnt war, das
Sagen zu haben. Vittorio Sputano, der oberste der Clanchefs.
    Er war umringt von einem kleinen
Wald aus Skulpturen der verschiedensten Stilarten. Die weiße Schlichtheit des
Raums und die seltsame Beleuchtung, die Tageslicht imitierte, verriet ihr, dass
sie sich in einer Art Galerie oder einem Museum befanden.
    »Nettes Stück Fleisch bringst du
mir da«, sagte Sputano zu dem Mann hinter ihr. »Aber was soll ich jetzt mit
ihr? Susanna hat