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Asylon

Asylon

Titel: Asylon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Elbel
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zerstörten den friedlichen Eindruck. Saïna
kämpfte Abscheu und Panik nieder und versuchte, einen klaren Gedanken zu
fassen.
    Vielleicht
leben sie noch …
    Sie zwang sich zum Tisch zu
gehen, nur um zu sehen, dass die grässlichen Nägel auch aus den Armen bis hoch
zu den Schultern ragten. Das Blut aus den zahlreichen Wunden hatte die
Tischplatte zwischen den Armen rot gefärbt, und unter dem Tisch hatte sich eine
riesige Lache gebildet.
    Saïna legte von hinten zwei
Finger auf Radus Halsschlagader, wie sie es so oft bei den Schwestern im Krankenhaus
gesehen hatte, und suchte nach dem Puls. Aber da war nichts. Dann trat sie,
ohne genauer hinzusehen, um die Leiche ihrer Freundin herum und tat dasselbe
bei dem kleinen Hank. Während der Körper ihrer Freundin noch von lebendiger
Wärme erfüllt zu sein schien, erkaltete die Haut des Jungen bereits. Ungewollt
fiel ihr Blick auf seine Füße, die noch gar nicht den Boden berührten. Sie
waren an den Stuhlbeinen festgenagelt.
    Es war zu viel. Sie brach neben
dem Tisch zusammen und ließ ihren Tränen freien Lauf.
    Es war, als ob ihr jemand den
letzten Rest Kraft aus dem Körper gesaugt hätte. Fast wünschte sie sich, Vanderbilt
möge zurückkehren und auch sie töten.
    Erst Lynn und
jetzt die beiden. Es ist meine Schuld. Ich hätte die Gefahr erkennen müssen. Aber ich musste ja um jeden Preis meine Neugier befriedigen.
Nun haben Poosah und ich niemanden mehr …
    Poosah …!
    Der Gedanke an das Mädchen
scheuchte die Verzagtheit aus ihren Knochen. Wo war die Kleine? Saïna sprang
auf und sah sich in der Wohnung um. Nirgends eine Spur von ihr.
    Dann erblickte sie die Buchstaben
an der Wand neben der Eingangstür. Sie wirkten wie ein riesiges Menetekel,
geschrieben in Blut.
    Danke
für die neue Sekretärin, auch wenn sie noch ein bisschen jung ist.
    Gruß,
C. V.
    »Du perverses
Schwein!«, brüllte Saïna.
    Aber was bedeutete das? Lebte
Poosah noch? Jedenfalls hatte er sie nicht gleich an Ort und Stelle getötet.
Wenn er erst seinen Spaß mit ihr haben wollte, war die Kleine vielleicht noch
zu retten. Auch war die grausame Botschaft ein Hinweis. Zwischen den Zeilen
sagte sie deutlich: Wir sind im Gouverneurspalast. Es
war mehr als das. Es war eine direkt an Saïna gerichtete Aufforderung, ihnen
zu folgen. Es war eine Falle, das war klar, nur hatte sie keine Wahl. Sie
musste zurück in den Palast.
    Mit schnellen Schritten eilte sie
auf die Tür zu, als ihr Blick wieder auf Radu und Hank fielen.
    Nein, ich kann
sie hier nicht so zurücklassen wie … wie ein paar blutige Puppen.
    Sie ging zu Radus Wäscheschrank,
riss zwei große Laken heraus und breitete sie über die beiden Körper. Dann
löschte sie das Licht und verließ, ohne noch einmal hinter sich zu blicken, die
Wohnung.
    Bei dem Gedanken, sich wieder in
den Machtbereich dieses Verrückten zu begeben, lief es ihr kalt den Rücken
hinunter. Sie wünschte, sie hätte die Zeit, sich irgendwie für die Begegnung zu
wappnen, irgendwen um Hilfe zu bitten, doch an wen konnte sie sich wenden? Ihr
Feind war ausgerechnet Vanderbilt, der Gouverneur der Stadt. Wer würde schon
bereit sein, sich gegen ihn zu stellen?

    Torn warf einen Blick
zurück.
    Die Blendmauer war nur mehr ein
helles Band in der Ferne. Für viele Jahre war sie die äußerste Grenze seiner
Existenz gewesen. Dahinter hatte die Hölle gelegen, so hatte es geheißen, eine
Hölle aus Hitze, Dürre und Myriaden von lebenden Hungerleichen. Nun war er
genau dorthin gelangt, und es hatte so gar nichts Höllisches. Im Gegenteil, das
Gefühl einer maßlosen Weite, das ihm in all den Jahren in permanenter
drangvoller Enge fast verloren gegangen war, erfüllte ihn mit unerwarteter Euphorie.
Mit jedem Schritt, den er tat, ließ er auch die Empfindung des
Eingezwängtseins, die ihm bisher noch nie wirklich bewusst gewesen war, ein
Stück mehr hinter sich. Noch konnte er sie sehen, die Schichten der Stadt. Sie
ragten wie eine schwärende dunkle Pestbeule über die Blendmauer hinaus. Doch
irgendwann würde der unendliche Horizont sie verschlucken. Schon flirrten
Grenze und Stadt wie eine Fata Morgana, die kurz davor stand, sich in der
warmen Luft aufzulösen.
    Vor ihm erstreckte sich eine
hügellose Landschaft aus heißem Staub und kleinen Felsen. Ein beständiger Wind
machte die Nachmittagsglut erträglich. Die Sonne, die innerhalb der Grenzen der
Stadt nur für die Bewohner der obersten Schichten ein regelmäßiger Anblick war,
würde ihn den ganzen Tag

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