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Asylon

Asylon

Titel: Asylon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Elbel
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die Flure des St. Niclas zum
Pausenraum hetzte. Ganz knapp war es ihr gelungen, von Grosse und seinem
mysteriösen Freund unentdeckt zu bleiben, indem sie im letzten Moment zur
linken Seite gerollt war, unter die Bahre, die neben der von Lynns Leichnam
gestanden hatte. Dass die beiden Männer sie dennoch nicht bemerkt hatten,
grenzte schon an ein Wunder.
    Der zerfetzte Körper ihrer
Freundin wurde auf Geheiß des Fremden eingeäschert, falls das nicht längst
geschehen war. Saïna wusste nicht, was sie sich von einer genaueren
Untersuchung des Leichnams erhofft hatte, doch nun blieben ihr nur noch die
Behauptungen dieses Kerls, der sich Scooter Darcy nannte. Nicht, dass sie ihm
misstraute. So wie er noch vor wenigen Minuten vor ihr gestanden hatte, schien
er die Aufrichtigkeit in Person zu sein. Und warum sollte sich auch jemand so
etwas ausdenken. Und dass Lynn verrückt genug gewesen war, die Stadt verlassen
zu wollen, zog Saïna auch nicht in Zweifel. Aber selbst Lynn hätte sich nicht
einfach so in ein Minenfeld begeben. Irgendwer oder irgendetwas musste sie dort
hineingelockt haben. Oder vielleicht hineingetrieben?
    Saïna schob die schwere Tür zum
Treppenhaus auf, die sich ächzend in ihren Angeln wand, und begann ihren Aufstieg
in eine der höheren Ebenen. Während sie eine Stufe nach der anderen nahm,
rekapitulierte sie noch einmal die wenigen ihr bekannten Fakten. Lynn hatte
sich davongemacht. Das war zwar nicht zum ersten Mal passiert, aber ihre
nebulösen Äußerungen gegenüber Poosah legten nahe, dass es diesmal für immer
hätte sein sollen. Entschluss und Zeitpunkt schienen irgendwie mit dem Ordo
Lucis zusammenzuhängen, jener obskuren Organisation, die ihren Anhängern ein
Leben in einem mythischen Paradies jenseits der äußeren Stadtgrenze versprach.
Und genau an dieser Grenze hatten dieser Scooter und sein Boss Lynn gefunden.
Das hatte zumindest eine gewisse Logik.
    Saïna verließ das Treppenhaus
durch die Tür zur Geburtsstation, auf deren Ebene auch ihr Pausenraum lag. Um
diese späte Uhrzeit herrschte auf den Gängen kaum Betrieb. Eine gelangweilte
Schwester räkelte sich auf dem Stuhl in ihrem Glaskasten am Stationseingang und
würdigte Saïna keines Blickes.
    Müde schüttelte Saïna den Kopf.
Das Krankenhaus war ein Kastenstaat mit dem technischen Personal in der Rolle
der Parias. Sie lenkte ihre Gedanken wieder zurück zu Lynn. Was war an der
Grenze passiert? Steckte wirklich der Ordo Lucis dahinter? Und gehörte Lynns
Scheitern im Minengürtel zu irgendeinem Plan? Da Saïna sich weiterhin weigerte,
an ein Avalon in den Offlands zu glauben, nahm sie an, dass Lynns Tod irgendwie
von vornherein einkalkuliert gewesen war.
    In ihre Grübelei versunken stieß
sie die Tür zur Registratur auf, die irgendein vergesslicher Geist augenscheinlich
nicht abgeschlossen hatte, wie es nachts sein sollte. Nur die Notbeleuchtung
brannte. Eigentlich hatte sie keinen Zutritt, doch es war der kürzeste Weg zum
Pausenraum.
    Warum, so fragte sie sich, lockt jemand Menschen mit einer
Lügengeschichte in die Minen, um sie dort zerfetzen zu lassen?
    Es gab jede Menge kranke Gemüter
in der Stadt, doch die meisten töteten Menschen, um daraus irgendeinen Vorteil
zu ziehen. Vielleicht hatte Lynn ihnen Geld gegeben, und man hatte es nicht
zurückzahlen wollen, auch wenn Saïna nichts von irgendwelchen Ersparnissen
wusste. Im Gegenteil. Sie hatten eigentlich alle drei immer von der Hand im
Mund gelebt. Allerdings, so musste sich Saïna eingestehen, hätte es Lynn
durchaus ähnlich gesehen, heimlich etwas für sich beiseite zu schaffen. Oder
gab es doch eine andere Erklärung? Sie beschloss, dass es am besten wäre, mit
Scooters Boss in Kontakt zu treten, wie Darcy es ihr vorgeschlagen hatte. Zwar
hatte sie zunächst abgelehnt, aber allmählich wurde ihr klar, dass die beiden
wohl die einzige Informationsquelle waren, die ihr in dieser Angelegenheit zur
Verfügung stand. Sie tastete nach der Visitenkarte, die Scooter ihr in die Brusttasche
gesteckt hatte, als sie seinen Vorschlag zurückgewiesen hatte.
    Der Flur vor ihr machte einen
Knick. Saïna sah das Gespenst erst, als sie fast hineingelaufen wäre. Sie stolperte
unbeholfen zur Seite und prallte mit der Schulter schmerzhaft gegen die
blechbeschlagene Kante eines Registraturschranks.
    Autsch!
    Ihre Schulter reibend, blieb sie
stehen und nahm die weiße Erscheinung in Augenschein, die sich bei näherer
Betrachtung als weibliche Patientin entpuppte. So unsicher, wie

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