Asylon
gewischt hatte, sah sie sich um. Überall Schränke. Im schattigen
Dämmer der Notbeleuchtung sahen sie wie lauernde Monster aus. War es Tag oder
Nacht? Sie wusste es nicht. Hier in den unteren Ebenen der Stadt machte es
ohnehin keinen Unterschied.
Sie spannte die Muskeln an. Es
war gut, den eigenen Körper zu spüren. Noch immer fühlte sie die Nachwirkung
des Beruhigungsmittels, das die Schwester ihr verabreicht hatte. Ein seltsamer
Nebel schien zwischen ihr und der Welt zu liegen. Sie schüttelte sich, ging zum
nächstbesten Schrank und zog wahllos eine Schublade auf. Darin fand sie lauter
Akten in abgegriffenen Hängeordnern. Sie griff sich einen der Ordner und begann
darin zu blättern. Im Halbdunkel war kaum etwas zu erkennen.
Licht!
Sie brauchte mehr Licht. Aber an
den Wänden des Flures war nirgends ein Lichtschalter zu entdecken. Vielleicht
war es in den angrenzenden Räumen heller. Sie ging zu einer Tür links von ihr.
»Dr. Grosse« stand dort in schwarzen Klebebuchstaben auf dem Milchglas. Der
Name kam ihr bekannt vor. Sie drückte die Klinke nach unten, und die Tür
öffnete sich zu einem kleinen Büro.
Auf einem Schreibtisch stand ein
Rechner mit altertümlichem Bildschirm, auf dem grüne Buchstabenkolonnen
glimmten. Die Nachwirkungen des Medikaments ließen sie vor Yvettes Augen
tanzen. Sie riss sich zusammen, schlüpfte durch die Tür, lehnte sie an und
setzte sich vor das Gerät. Offenbar handelte es sich bei den Buchstabenkolonnen
um irgendeine Art von Registraturprogramm, das sie vage an die
Verdächtigenkarteien erinnerte, die sie während ihrer Tätigkeit für die Polizei
betreut hatte. Die Begegnung mit etwas professionell Vertrautem flößte ihr ein
wenig Mut ein.
Sie setzte sich vor das leise
brummende Gerät und gab ihren Namen in ein Kästchen ein, das sie für ein Suchfeld
hielt. Dann drückte sie die Eingabetaste. Der Rechner nahm mit anschwellendem
Surren seine Arbeit auf, und zu ihrer Überraschung erschien kurz darauf
tatsächlich eine Art digitale Karteikarte. »Torn, Yvette« stand dort ganz oben
links. Danach folgten ein paar Lebensdaten und schließlich der Grund ihres
Aufenthalts: »Entbindung«. Alles nicht besonders erhellend. Doch da war ein
weiteres Feld mit der Bezeichnung »Kind«. Sie schob mit der Maus den Cursor darauf
und klickte es an.
Ein neues Bild erschien, mit der
rätselhaften Überschrift »Biologische Agressionsindikatoren« und einigen
offenbar medizinischen Werten, die mit nicht weniger mysteriösen Bezeichnungen
wie » MAO -Hemmer«
benannt waren. Yvette biss sich vor innerer Anspannung auf die Unterlippe.
»Transferempfehlung Externo«
stand ganz unten auf dem Bildschirm. Dahinter war die Option »Ja« markiert.
Ich hab’s doch
gewusst!
»Transferempfehlung« – das
bedeutete, dass man ihr Kind irgendwo hin verbracht hatte, und zwar zu etwas,
das mit »Externo« bezeichnet wurde, worum immer es sich dabei auch handeln
mochte.
Sie klickte wieder zurück zu
ihrer Dateikarte. In der letzten Zeile befanden sich zwei Pfeile, einer wies
nach links, einer nach rechts. Offenbar konnte man auf diese Weise zu anderen
Patientendateien klicken. Sie setzte den Cursor auf den Pfeil nach rechts und
drückte die linke Maustaste. Sogleich erschien eine ganz ähnliche Datei, nur
war sie mit dem Namen »Tolk, Maria« überschrieben, deren Kind, wie Yvette beim
Weiterklicken feststellte, nicht jene mysteriöse Empfehlung erhalten hatte.
Yvette blätterte sich im Eiltempo
durch etliche weitere Bildschirmseiten und stieß auf lauter Frauen, deren
Kinder in gleicher Weise registriert worden waren. Ein geringerer Teil von
ihnen, vielleicht jedes zehnte, hatte die »Transferempfehlung« erhalten. Es
musste ein recht selektiver Prozess sein.
Das untrügliche Gefühl einer
neuen Präsenz im Raum jagte ihr auf einmal einen Schauer über den Rücken.
»Sieh mal an, wen haben wir denn
da? Ist das nicht die kleine Yvette?«
Ihr Herz setzte einen Schlag aus,
als sie die ihr nur allzu vertraute Stimme vernahm. Langsam drehte sie sich auf
dem Stuhl, auf dem sie Platz genommen hatte, um.
»Ich denke, du hast etwas mehr
gesehen, als gut für dich ist.«, sagte der dunkle Schatten in der Tür.
In seinem Apartment an
der Oberfläche der Stadt wälzte sich Torn im whiskeyschwangeren Schlummer hin
und her. Rätselhafte, aber dennoch wohlbekannte Traumbilder erschienen vor
seinem inneren Auge und verschwanden wieder.
Die hübsche
junge Frau mit den bernsteinfarbenen Augen zieht
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