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Asylon

Asylon

Titel: Asylon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Elbel
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die Frau auf
den Beinen war, konnte ihre Entbindung noch nicht allzu lang zurückliegen.
Durch den Kranz ihrer kurzen blonden Haare sah sie im Dämmerlicht der
Notbeleuchtung ein wenig wie ein altertümliches Heiligenbild aus. Ihre
dunkelblauen Augen flackerten unstet.
    »Was machen Sie hier?«, presste
Saïna halb im Flüsterton hervor.
    Es war so, als ob der Blick der
Frau sie daraufhin erst erfasste. Mit der blitzartigen Schnelligkeit einer
Kobra ergriff sie Saïnas Hand und presste sie an ihren knappen Kittel, der ihre
Nacktheit mehr schlecht als recht verhüllte. Die unerwartete Geste verursachte
ein heißes Prickeln auf Saïnas Gesicht. Sekundenlang erwog sie, ihre Hand
fortzureißen, brachte es dann aber nicht übers Herz. Der Blick der Frau hatte
auf einmal etwas Flehentliches.
    »Sie haben ihn aus mir
herausgeschnitten und fortgenommen.« Wie zur Bekräftigung drückte sie Saïnas
Hand an der Rundung ihrer Brust vorbei nach unten zu ihrem Bauch. »Helfen sie
mir.«
    Die Intimität der Berührung war
Saïna unerträglich. So vorsichtig sie konnte, entzog sie der Fremden ihre Hand.
Sie ertappte sich dabei, dass sie tatsächlich kurz überlegte, wie sie ihr
helfen könnte, das Kind zu finden, nach dem sie offenbar suchte, doch dann
gewann ihre Vernunft die Oberhand. Sie trat einen Schritt zurück. Sie durfte
nicht einmal hier sein. Die Schwestern würden der Frau schon beistehen. Nun ja,
oder auch nicht. Aber wahrscheinlich litt sie sowieso nur an postnatalem Schock
oder so was.
    »Gehen Sie zu den Schwestern. War
es eine Frühgeburt? Ihr Kind ist bestimmt in der Brutstation.«
    Die Fremde starrte sie mit
unheimlicher Intensität an. In der Dunkelheit schienen ihre Augen nur aus
Pupillen zu bestehen. Dann begann sie zu schreien. »Ihr habt es gestohlen! Ihr
habt mein Baby gestohlen!«
    Die Lautstärke brachte Saïna ihre
Situation vollends zu Bewusstsein. Sie war an einem Ort, an dem sie nichts zu
suchen hatte, und beschäftigte sich mit Dingen, die sie nichts angingen. Ohne
die Fremde irgendeines weiteren Blickes zu würdigen, drehte sie sich um und
lief so schnell sie konnte auf den Ausgang der Registratur zu. Kaum hatte sie
die Tür aufgestoßen und war in das Licht des Aufenthaltstrakts getreten,
verklangen die Schreie hinter ihr.
    Einige Minuten später, während
sie ihre Uniform in den Spind faltete und sich ein sauberes T -Shirt überstreifte,
schien ihr das Geschehen von vorhin bereits so unwirklich, dass sie sich fast
fragte, ob sie vielleicht wirklich einem Geist begegnet war.

4
    Vittorio Sputano beugte
sein Gesicht über den Rand des offenen Fahrstuhlkorbes. Tief unter ihm war die
Außenhaut der Stadt an den vielen Lichtern und kleinen Feuern zu erkennen, die
von den Bewohnern der oberen Schichten herrührten. Nicht lange, und all das
würde ihm gehören. Er lächelte zufrieden in die Dunkelheit hinaus. Ein
glückliches Schicksal hatte für ihn zwei seiner bedrohlichsten Konkurrenten aus
dem Weg geräumt, ohne dass er dazu einen Finger hatte rühren müssen. Und wenn
ihn nicht alles täuschte, hatte an diesem Tag der verbleibende dritte den Hals
nahezu freiwillig in die Schlinge gelegt. Es war nun an ihm, diese Schlinge
zuzuziehen.
    Doch zuvor galt es, ein paar
kleinere Aufräumarbeiten zu verrichten. Die Leveller waren entscheidend geschwächt
worden. Sie würden einer Machtergreifung durch seinen Clan nicht mehr viel
entgegensetzen können. Torn Gaser war ihr wichtigster Mann gewesen. Fast tat er
ihm ein bisschen leid. Nun ja, so sagte sich
Vittorio, wo gehobelt wird, da fallen auch Späne. Auch
war er mit Torn leider noch nicht ganz fertig.
    »Gote.«
    Der stumme Hüne, der bis dahin
reglos neben ihm gestanden hatte, eine Streitaxt vor die breite Brust gelegt,
wandte sich ihm zu und zog die Brauen hoch.
    »Du erinnerst dich an Leveller
Torn?«
    Durch den Sehschlitz seines Helms
konnte man seine Augen leuchten sehen. Er nickte.
    Vittorio fuhr sich mit der
flachen Hand über die Kehle, eine unmissverständliche Geste, und fügte leise
hinzu: »Du weißt, was zu tun ist!«
    Der Gote strich nahezu zärtlich
über die Schneide seiner Axt.

    Torn öffnete die Tür zu
seiner Wohnung, eine Flasche Algen-Whiskey vom Chinesen zwei Ebenen tiefer in
der Hand. Ein wohlbekannter Geruch schlug ihm entgegen.
    »Verdammt, ich habe dir schon
hundert Mal gesagt, dass ich es hasse, wenn du hier rauchst!«
    Verlegen drückte Scooter die
Zigarette aus. Der vor Kippen überquellenden Untertasse zufolge, die vor ihm
auf

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