Asylon
mir die Kanüle einer großen
Spritze aus dem Arm. Sie lächelt mich an. Sie hat kleine Grübchen in den Wangen.
Ob sie verheiratet ist?
»Wer sind
Sie?«, fragt sie mich. »Sagen sie mir Ihren Namen.«
Ich sehe mich
um. Der Raum ist klein. Ein winziger, fensterloser Kubus. Völlig weiß. Eine
seltsame Kraft zerrt an uns allen, als würde sich das Ding bewegen. Ich selbst
kann mich nicht rühren. Irgendetwas schließt mich rundherum ein. Aber was? Ich
kann auch den Kopf nicht drehen. An der Wand gegenüber stecken zwei Kerle
jeweils in einer Art großem Kokon, der den ganzen Körper umgibt. Ich glaube,
ich kenne die beiden. Und so, wie es sich anfühlt, stecke auch ich in so einem
Ding.
»Können Sie
mir sagen, wie alt Sie sind?«
Immer noch die
hübsche Frau, die mir die Spritze aus dem Arm gezogen hat. Was will sie nur von
mir? Wer ich bin? Ist doch klar.
Ich bin …
Ich …
O mein Gott …
Schreiend erwachte Torn aus dem
Traum, den er so oder ähnlich schon hunderte Male durchlebt hatte. Am Schlimmsten
war jedes Mal diese Leere, da, wo eigentlich das Gefühl für die eigene
Identität hätte sein müssen. Es war der Verlust jeden Halts, die totale
Auflösung. Ein Körper ohne Vergangenheit und Zukunft. Es war die Hölle.
Torn ging ins Bad, um sich zu
übergeben. Irgendwo in einer angrenzenden Wohnung erklangen Lustschreie. Er
nahm einen Schluck Wasser und stolperte zurück zur Couch. Die Uhr stand auf
zehn nach drei. Mitten in der Nacht.
Verdammt. So, wie sich die Welt
vor seinen Augen drehte, musste er sich bis zur Besinnungslosigkeit besoffen
haben. Dabei hatte er Yvette hoch und heilig versprochen, keinen Alkohol mehr
anzurühren.
Yvette …
Verdammt, er hatte sie schon
wieder im Stich gelassen!
Für einen Moment war er fest
entschlossen, zum St. Niclas aufzubrechen. Schon stolperte er auf die Tür zu,
doch dann hielt er inne. Besser, wenn sie ihn nicht so sah. Besser, wenn er
erst seinen Rausch ausschlief.
Mit einem Seufzer ging er zurück
zum Sofa und ließ sich wieder auf die Polster gleiten. Dann fielen ihm die
Augen zu.
Ich bin in
einem Raum. Er ist klein und ganz weiß …
Der nächste Morgen
begann für Torn damit, dass der Wassergeldeintreiber an die Tür klopfte.
Zähneknirschend bezahlte er den kleinen haarigen Kerl und überwachte misstrauisch,
wie er die rostige Wasseruhr neben dem Türrahmen wieder auf Null stellte.
»Ich sehe Sie in einem Monat.«
Der Mann salutierte mit einem schmierigen Grinsen und klopfte an der
Nachbartür.
Torns Schädel brummte. Die Whiskeyflasche
auf der Küchentheke war leer. Er heizte etwas Wasser an und öffnete den
Kreislauf für das kleine Bad, dann schälte er sich aus den Klamotten, in denen
er bereits gefühlte zwei Tage steckte. Unter dem dampfenden Strahl der Dusche
schrubbte er sich den klebrigen Film von der Haut, den die letzte Nacht dort
hinterlassen hatte. Anschließend brühte er sich mit dem Rest des noch heißen
Wassers einen starken Kaffee, der die letzten Traumgespinste aus seinem Kopf
vertrieb.
Halbwegs nüchtern, wie er nun war,
traf ihn die Erinnerung an die Ereignisse des gestrigen Tages mit voller Wucht.
Yvette. Er musste sie endlich wiedersehen. Hektisch riss er seinen Mantel vom
Haken und stürmte durch die Tür. Schon war er halb in der Gasse, als ihn eine
plötzliche Idee innehalten ließ. Er ging zurück in die Wohnung. In einer
verschrammten Schatulle in Yvettes kleinem Nachtschränkchen fand er das, was er
suchte. Eine kleine, getrocknete Rose. Yvette hatte vor Rührung geweint, als er
sie eines Tages aus dem Garten der Clanchefs mitgebracht hatte; er hatte sie
heimlich gepflückt. Hier unten gab es keine Blumen. Yvette, die sich nicht
davon trennen wollte, hatte sie schließlich getrocknet und bewahrte sie seither
in dem Kästchen auf. Er legte die Rose zurück in die Schatulle, steckte beides
in die Manteltasche und ging los.
Das St. Niclas lag viele Dutzend
Ebenen unter der Oberfläche. Je tiefer er kam, desto erbärmlicher sahen die
Flure aus. Der Geruch von modrigem Putz und dem feuchten Pressspan, aus dem die
Wohnungstüren hier bestanden, mischte sich mit dem der kleinen Müllhaufen, die
sich neben den Türen seit der letzten Sammlung gebildet hatten. Ein wilder
Dschungel aus Rohren und elektrischen Leitungen unter der Decke erlaubte
zumeist nur einen gebeugten Gang.
Im Vorbeigehen raunte ihm eine
Prostituierte in gelbem Plastik eine anzügliche Einladung in irgendeinem Streetdialekt
zu. Torn konnte es sich nicht
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