Asylon
in der Kirche.
Wenn es geschah, wollte er hier
sein, in der kühlen Dunkelheit, bei den Toten. Anfänglich hatte ihn der Geruch
gestört, den diejenigen von ihnen verbreiteten, die schon etwas länger hier
unten logierten. Mittlerweile aber gab es für ihn nichts Erregenderes als den
Duft des allmählichen Verfalls menschlicher Körper, und das umso mehr, wenn
diejenigen, die ihn verströmten, seine Geschöpfe
waren. Und er hatte schon einige hierhergebracht.
Da!
Diesmal hatte er es deutlich
wahrgenommen. Es war das Geräusch des schweren Lastenaufzugs, der sich hinab in
den Keller bewegte. Irgendwer war im Anmarsch. Ob er in die Pathologie wollte
oder in irgendein Archiv, konnte er nicht wissen, aber es war besser, auf
Nummer sicher zu gehen. Er schaltete die kleine Stablampe an, die er für alle
Fälle mitgenommen hatte, und leuchtete den Raum ab. Sein Blick fiel auf eine
leere Bahre, auf der das Abdecktuch für den nächsten Okkupanten schon
bereitlag.
6
Ein paar Minuten nach
ihrem Zufallstreffen waren Scooter und Saïna gemeinsam auf dem Weg in den
Keller des Gebäudes. Ein altersschwacher Lastenaufzug mit Wänden aus
blickdichtem Drahtgitter beförderte sie ächzend in die Tiefgeschosse.
»Wir müssen vorsichtig sein«,
mahnte Scooter. »Nur die Polizei hat Zutritt zur Pathologie, und ich bin kein Polizist.«
»Und wie kommen wir dann hinein?«
Scooter fingerte in einer der
Beintaschen seiner kurzen Hose herum und zog mit triumphierendem Grinsen etwas
heraus, was wie eine Zutrittskarte aus Plastik aussah. »Hatte eine kleine
Rangelei mit besagtem Rygor. Da hat er die hier gewissermaßen … verloren . Ich wusste doch, sie würde irgendwann mal
nützlich sein.«
Mit finalem Kreischen kam der
Fahrstuhl zu stehen.
»Zehntes Untergeschoss. Abteilung
Leichen und Nagetiere«, sagte Scooter vergnügt.
Saïna unterdrückte eine
schnippische Bemerkung. Die Aussicht, erneut den übel zugerichteten Körper
ihrer Freundin zu sehen, hatte bei aller Neugier nichts Erfreuliches und ließ
ihren Sinn für Humor gegen Null tendieren.
Sie verließen den Aufzug. Scooter
legte einen großen Hebel um, und ein paar Neonröhren hoch über ihnen nahmen
widerwillig zuckend und surrend den Dienst auf. Es roch nach Metall. Vor ihnen
erstreckte sich ein Gang, dessen Höhe weiter oben in der Stadt geradezu luxuriös
gewirkt hatte. Tief unten, sozusagen am Grund der Stadt und mit dem Wissen,
dass sich Hunderte Schichten Bebauung über ihren Köpfen befanden, wirkte er um
nichts weniger bedrückend als die engen Gassen dort oben. Fast so, als befände
man sich in einem U -Boot, Tausende von Meilen unter dem Meeresspiegel. Egal,
wie groß die Kabinen waren, man fühlte sich immer wie eine Ratte in der Falle.
Jedenfalls stellte sich Saïna das so vor. Sie war, soweit sie sich
zurückerinnern konnte, noch nie in einem U -Boot gewesen.
Das durchgängig stählerne
Interieur hatte tatsächlich viel von einem Schiff. Sie wusste, sie war
irgendwann einmal auf einem gefahren. Aber die Vorstellung fühlte sich so
absurd an, dass es ihr wie ein Traum erschien.
Wann war das
nur gewesen?, fragte sie sich.
Scooters Schritte weckten sie aus
ihren Grübeleien. Auf dem feuchten Metall der Roste, die den Boden vollständig
bedeckten, erzeugten seine Gummisohlen ein hässliches Quietschen.
Saïna trottete ihm zögerlich
hinterher. Während ihr Blick an jeder der massiven Türen links und rechts des
Ganges hängen blieb, fragte sie sich, welche dunklen Geheimnisse sich dahinter
wohl verbargen. Eine der Patientinnen im Krankenhaus hatte ihr einmal erzählt,
wie man ihren Verlobten wegen irgendeines kleineren Vergehens vorgeladen hatte.
Morgens hatte sie ihn verabschiedet und ihm Mut zugesprochen. Er war nie wieder
aufgetaucht. Für einen Moment sah sich Saïna jenseits der Türen in der feuchten
Dunkelheit einer winzigen Zelle, ohne Aussicht, jemals wieder frei zu kommen.
Ein Schauder lief ihr prickelnd über den Rücken.
Sie richtete den Blick auf
Scooter. Ob sie ihm trauen konnte? Warum hatte er bei der Erwähnung des Ordo
Lucis so empfindlich reagiert? Vielleicht steckte er mit diesen mörderischen
Scharlatanen unter einer Decke, und sie hatte sich ihm praktisch ausgeliefert,
indem sie ihm hierher gefolgt war. Vorsichtig sah sie sich nach irgendetwas um,
was ihr als Waffe dienen konnte, sollte er sie angreifen.
»Hey, Lady. Stimmt was nicht?«
Saïna schrak zusammen. Erst jetzt
fiel ihr auf, dass sie unwillkürlich stehen geblieben war. Sie
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