Aszendent Blödmann
rein, es wird Zeit!«, rief er in Richtung Badezimmer.
»Ich komme sofort«, tönte es gedämpft zurück.
»Meinst du sofort im Sinne von: jetzt? Oder sofort im Sinne von: in zwei Stunden?« In gespielter Verzweiflung raufte Andreas sich die Haare. »Warum seid ihr Frauen mit euren Zeitangaben immer so furchtbar unpräzise?«
Wenige Minuten später kam Charlotte völlig aufgelöst ins Wohnzimmer gestürzt. »Oh Gott, Mel, ich bin so nervös. Worüber soll ich mich mit Andreas’ Chef bloß unterhalten?«
»Ach, mach einfach ein bisschen Smalltalk«, riet ich meiner Freundin. »Worüber man halt so spricht, wenn man sich nicht besonders gut kennt. Am besten stellst du dir vor, du wärst bei Bens Krabbelgruppe.«
»Meinst du wirklich, dass Andreas’ Boss sich für Windeln und Dinkelbrei interessiert? Auch die Verdauung ist unter Müttern immer ein sehr beliebtes Thema.«
»O. K. Vergiss meinen Vorschlag. Sprich vielleicht doch lieber übers Wetter.«
Charlotte stieß einen tiefen Seufzer aus. »Mir kommt es so vor, als hätte ich die letzten Monate mit Ben, abgeschnitten von der Außenwelt, auf einer einsamen Insel verbracht.«
»Hinter den Windelbergen bei den kleinen Zwergen«, ulkte Andreas vergnügt.
»Sehr witzig!«, fuhr Charlotte ihren Mann an. »Vielleicht sollte ich, bevor wir gehen, noch schnell einen Blick in die Zeitung werfen. Ist heute irgendwas Wichtiges passiert? Ein Reaktorunglück? Korruption? Gammelfleisch? Nun sagt schon!«
»Nein, nur so das Übliche«, versuchte ich meine Freundin zu beruhigen, aber die war längst schon beim nächsten Thema angelangt. »Wie sehe ich aus? Ich wollte ja noch eine Blitzdiät machen, aber eine, die in fünf Minuten wirkt, habe ich nirgendwo gefunden.«
»Charly, du siehst toll aus!«, versicherte ich meiner Freundin und meinte es auch so. Ausnahmsweise saß sogar Charlottes Frisur tadellos.
»Ja, findest du?«, fragte sie unsicher und strich sich dabei den Rock ihres Kleides glatt. »Ehrlich?«
»Ehrlich«, beteuerte ich.
»Da hörst du es.« Andreas verdrehte die Augen. »Mir glaubt sie das ja nicht.«
»Nur dein Kleid …«
»Was ist mit dem Kleid?«, fragte Charlotte alarmiert.
Ich hatte Mühe, mir ein Grinsen zu verkneifen. »Die Stola passt irgendwie nicht richtig dazu.«
»Die Stola? Welche Stola? Aber zu dem Kleid gehört doch überhaupt keine Stola!« Charlotte griff tastend auf ihre Schulter und hielt einen Moment später eine weiße Stoffwindel mit kleinen blauen Bärchen in den Händen. »Oh Gott, das Spucktuch! Das habe ich ja völlig vergessen. Meine Güte, Mel, wie gut, dass du da bist. Andreas hätte mich mit dem vollgesabberten Tuch auf der Schulter losgehen lassen. Da kannst du mal wieder sehen, wie genau er mich anschaut.« Sie kniete sich neben Ben auf die Krabbeldecke, um sich von ihrem Sohnemann zu verabschieden. Die Trennung fiel ihr sichtlich schwer. »Soll ich nicht vielleicht doch lieber zu Hause bleiben? Fühl mal, Mel, ist Bens Köpfchen nicht ein bisschen heiß? Und was ist das für ein merkwürdiger roter Fleck hier an seinem Handgelenk? Meinst du wirklich, du kommst klar? Hast du meine Handynummer?«
Wollte sie mich auf den Arm nehmen? Ich hatte Charlotte schon so oft auf ihrem Handy angerufen, dass ich eher die Nummer der Notrufzentrale vergessen würde.
»Jetzt aber raus hier!«
Nachdem ich Charlotte aus ihrem eigenen Haus geschmissen hatte, widmete ich mich meinem Patenkind. Im Gegensatz zu seiner Mutter war Ben die Ausgeglichenheit in Person. Bis die Schlafenszeit gekommen war.
»So, jetzt gehen wir mal schön in die Heia«, erklärte ich ihm freundlich.
»Ääääh!« Entweder hatte er partout keine Lust zu schlafen, oder er war erbost, weil er mich bei einer verbalen Finte erwischt hatte. Von wegen »gehen WIR in die Heia« … Ich hatte nicht vor, mich aufs Ohr zu hauen. Im Gegenteil: Auf mich wartete noch eine Menge Arbeit!
»Mäuschen, du musst jetzt einschlafen, morgen ist wieder ein schöner neuer Tag«, versuchte ich, Ben die Sache noch einmal schmackhaft zu machen.
»Äääää« und »äääää« und »äääää«. O. K., das waren starke Argumente, über die es sich lohnte nachzudenken. Ich versprach Ben, dass er noch fünf Minuten aufbleiben durfte, und ging in die Küche, um einen Beruhigungstee zu kochen. Für mich, nicht für Ben. Denn langsam wurde ich kribbelig. Komme, was da wolle, dachte ich, ich muss die Präsentation heute Abend unbedingt fertig kriegen. Und ich hatte mich noch nicht
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