Aszendent zauberhaft
in Winterbrook war Essie verunsichert, wenn sie allein war, selbst in diesem Gelände, zumindest in der ersten Zeit – nicht, dass sie das jemals irgendwem eingestanden hätte, vor allem nicht der enormen Joy. Aber inzwischen spürte sie gelegentlich das Verlangen, allein zu sein, und genoss es, wenn sie sich von dem Alltag im Heim davonschleichen konnte.
Als sie ihren Schlupfwinkel erreicht hatte, suchte sie sich ein schattiges Plätzchen im Grünen und hielt sich an einem passenden tiefen Ast fest. Nur geringfügig schnaufend ließ sich Essie auf ein Moospolster sinken. Verflixt, dachte sie, ich werde wohl alt. Obwohl sie regelmäßig jeden Morgen zwanzig Minuten Gymnastik machte, war dies doch ein bisschen anstrengend
gewesen. Ihre Gelenke knirschten. Sie schnaubte. Das kam davon, wenn ihr nicht erlaubt wurde, die langen ausgedehnten Spaziergänge zu machen, die sie so liebte. Und natürlich von dieser nicht enden wollenden Hitze. So sehr Essie den Sommer auch liebte, wünschte sie wirklich, diese monatelange Hitzewelle hätte bald ein Ende. Ein heftiges Gewitter würde Wunder wirken.
Doch, dachte sie, als sie die Sandalen abstreifte und die Beine ausstreckte, es war doch herrlich – der kühle gesprenkelte Schatten der Bäume, das tirilierende Vogelgezwitscher, das einschläfernde Brummen unsichtbarer Autos auf der fernen Straße, das gelegentliche träge Summen einer mit Pollen beladenen Biene und der Geruch von …? Essie runzelte die Stirn. Was war das eigentlich für ein Geruch?
Tabak? Tabak!
Oh … Essie inhalierte gierig, als dieser Duft ein vor langer, langer Zeit überwundenes Verlangen weckte. Essie hatte in jungen Jahren vergnügt ihre dreißig Zigaretten am Tag gepafft, war dann aber aus finanziellen Gründen gezwungen gewesen, diese Angewohnheit aufzugeben. Es gab allerdings selbst jetzt noch Momente, in denen sie sich zur ersten Tasse Kaffee am Morgen nichts sehnlicher wünschte als eine Filterzigarette.
Twilights war natürlich ein Nichtraucher-Heim, wenngleich es süchtigen Bewohnern gestattet war, in ihren Appartements zu rauchen, wenn sie es denn nicht lassen konnten. Die meisten taten es nicht. Hauptsächlich, weil die Tugwells immer so einen Aufstand machten, von wegen spontanes Entflammen, und praktisch mit dem Feuerlöscher in der Hand Wache standen, sobald sich jemand eine anzündete. Und die armen Mädels von der Nachtschicht mussten die Zimmer der Raucher doppelt so oft überprüfen, um sicherzugehen, dass niemand sich während der Spätnachrichten versehentlich in Brand setzte.
Essie schnupperte noch einmal. Nein … Nur warmes Gras und Heu. Ihre Einbildung hatte ihr wohl einen Streich gespielt. Entweder das, oder ein »rauchender Geist« – eine Figur aus urbanen Mythen und ländlichen Legenden.
Da sie nicht an Geister glaubte, ob sie nun rauchten oder nicht, lehnte sich Essie an den Stamm des Kirschbaums, genoss den Anblick der Felder und den strahlend kornblumenblauen Himmel und freute sich, mit sich und ihren Gedanken allein zu sein. Da Adas Beerdigung nun vorüber war, konnte sie ihre Pläne angehen, für die Twilighter ein häusliches Unterhaltungsprogramm auf die Beine zu stellen. Wenn der kleine Tony und die enorme Joy sich weigerten, hierfür das Budget zu strecken, dann müssten die Bewohner eben selbst für ihr Vergnügen sorgen.
Wie Essie wusste, hatte Mitzi Blessing vor mehreren Jahren die Über-vierzig-Jährigen von Hazy Hassocks mächtig auf Trab gebracht. Nun hatten sie Clubs und Aktivitäten in Hülle und Fülle, alles auf Grundlage ihrer eigenen Fähigkeiten. Warum sollte sie, Essie, in Twilights nicht etwas Ähnliches hinkriegen? Es gab mehr als genug rüstige Bewohner, die in den unzähligen Stunden erzwungener Untätigkeit ein Angebot geistig anspruchsvoller Freizeitbeschäftigungen durchaus zu schätzen wüssten.
Lilith, Prinzessin und Bert hatten tolle Ideen vorgebracht, als sie ihren umstrittenen Plan zum ersten Mal erläutert hatte. Lilith könnte karibische Küche unterrichten, Prinzessin – eine winzige Siebzigerin mit rabenschwarzem Haar, die von ihren liebenden Eltern immer bei diesem Kosenamen genannt worden war und nie bei ihrem Taufnamen Doris – war eine begeisterte Yoga-Anhängerin, und Bert, der Gute, hatte angeboten, andere an seiner Leidenschaft für Makramé und Origami teilhaben zu lassen.
Was sie selbst betraf, Essie lächelte verzückt vor sich hin, so hatte sie vor, Tony und Joy so richtig auf die Palme zu bringen, und zwar mit
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