@ E.R.O.S.
Menschen um.«
Miles starrt uneinsichtig auf den Tisch.
»Aber sobald man erst einmal richtig von den Computern verführt wurde«, fährt sie fort, »ist es für die Medizin zu spät. Dann befaßt man sich mit Hardware und Software und nicht mit Wetware.«
Ihr zutreffender Gebrauch dieses Computerbegriffs für das menschliche Gehirn – und darüber hinaus für den Menschen an sich – überrascht uns beide.
»Aber ein Chirurg als Computerexperte?« fragt sie und setzt sich wieder in Bewegung. »Das Klischee, daß man während des Medizinstudiums keine Freizeit hat, ist falsch. Die Leute heiraten, haben Hobbys. Wenn wir von einem Medizinstudenten ausgehen, der nicht viel oder überhaupt nicht ausgeht, aber von Computern besessen ist, kann ich mir problemlos vorstellen, daß er die Fertigkeiten erwirbt, von denen du sprichst. Besonders, wenn er die Neigung dazu hat. Und ein praktizierender Chirurg hat so viel Freizeit, wie er will, und auch das Geld, um seiner Besessenheit zu frönen.«
Miles schaut auf. Die Niederlage ist ihm ins Gesicht geschrieben.
»Die Frage lautet nur«, kommt Drewe zum Schluß, » wofür entnimmt er die Zirbeldrüse? Was fängt er damit an? Was glaubt denn das FBI?«
Miles trommelt mit seinen langen Fingern auf den Tisch und wirft einen Blick auf ein anderes Blatt. »Es gibt mehrere Möglichkeiten. Er könnte sie essen, verbrennen oder an Asiaten verkaufen, die bestimmte Hormone daraus gewinnen.«
Drewe bleibt wieder stehen. »Melatonin.«
»Genau«, sagt Miles.
»Weißt du, was Melatonin bewirkt?«
»Es reguliert den Schlafzyklus. Offensichtlich sind die Leute im Augenblick ganz verrückt darauf und nehmen es als natürliche Schlaftablette. Einige halten es für eine Zauberpille gegen das Altern. Ich kenne ein paar Computerleute, die es nehmen, zusammen mit hundert anderen Vitaminen und Kräutern.«
Drewe kommt endlich zum Tisch und setzt sich. »Als Harper aus New Orleans zurückkam«, sagt sie, »hat er mir erzählt, daß die Zirbeldrüse entfernt worden war. Am nächsten Tag habe ich ein paar Fragen in den Medline-Computer des Universitätskrankenhauses eingegeben. Ich habe etwas mehrerfahren, als ich schon wußte, aber nicht viel. Gerade genug, um mir die richtige Richtung zu weisen. Der Universität gehört ein Neurobiologe an; er ist noch nicht lange dort, aber er ist gut. Ihr hättet sehen sollen, wie er zum Leben erwachte, als ich ihm Fragen über die Zirbeldrüse stellte. Als ich eine Dreiviertelstunde später wieder ging, redete er noch immer auf mich ein.
Melatonin ist im Augenblick so gefragt, weil Forschungsteams in verschiedenen Teilen der Welt in letzter Zeit ein paar verblüffende neue Entdeckungen darüber gemacht haben. Doch bevor ich euch sage, worum es dabei geht, will ich euch sagen, warum diese Frauen umgebracht werden.«
Miles starrte Drewe mit dem Staunen eines Kindes an, das die Show eines Bühnenzauberers beobachtet.
»Ich möchte zuvor eine Frage stellen«, sagt sie. »Wie alt waren die Opfer jeweils?«
Miles’ eidetisches Gedächtnis spuckt die Angaben wie Bingozahlen aus. »26, 23, 24, 25, 26, 25, 47.«
»Ist das die richtige Reihenfolge? Nach dem Zeitpunkt des Todes?«
»Ja.«
»Wie alt ist die Frau, die entführt wurde? Rosalind sowieso?«
»Fünfzig.«
Drewe lächelte. »Da haben wir’s. Jemand versucht, Menschen Zirbeldrüsen zu transplantieren.«
»Was?« ruft Miles.
»Warum?« frage ich.
»Um der menschlichen Lebensspanne fünfzehn bis zwanzig aktive Jahre hinzuzufügen. Vielleicht letzten Endes seinem eigenen Leben.«
Miles und ich sind stumm.
»Dem Neurobiologen zufolge«, fährt Drewe fort, »konzentrieren sich Forscher im Ausland, die mit der Zirbeldrüse arbeiteten, ursprünglich auf Melatonin als Ergänzung der Ernährung, genau wie die Leute es heute einnehmen. Sie fandenheraus, daß Mäuse, die das Hormon regelmäßig mit ihrer Nahrung zu sich nahmen, nicht nur gesünder als die Vergleichsmäuse waren, sondern auch länger lebten. Dies veranlaßte sie zu einem radikaleren Untersuchungsansatz. Sie ließen Mikrochirurgen Zirbeldrüsen zwischen Mäusen transplantieren – die junger Mäuse in alte Mäuse und umgekehrt. Die Ergebnisse waren erstaunlich. Viel dramatischer als orale Dosen. Die Felle der alten Mäuse gewannen ihren schimmernden Glanz zurück, die Tiere entwickelten wieder sexuelles Verlangen und Fähigkeiten, die Anzahl der T-Zellen stieg, gewisse Tumore verschwanden, und es gab noch ein Dutzend weiterer
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