@ E.R.O.S.
meine analytische Begabung. Ich bringe den Frauen auf diesen versengenden Bildern zu viel Mitgefühl entgegen, als daß ich sie mit angemessenem Abstand objektiv betrachten könnte. Vielleicht ist das der Grund,warum ich damals nicht in die Fußstapfen meines Vaters getreten bin.
Drewe ist zu diesem Abstand fähig. Vielleicht ermöglicht gerade das ihr in Hinsicht auf Brahma logische Schritte, während Miles und ich wie kleine Jungen dahintrotten, die einer Brotkrumenspur folgen. Seltsam, daß die gefühlsmäßige Distanz für jene, die heilen, unbedingt erforderlich ist, wohingegen ich, der ich den Schmerz anderer schärfer als die meisten wahrnehme, viel mehr Menschen verletzt als geholfen habe.
Was kann ich für diese armen Frauen tun? Was brauchen sie? Jemand, der sie rächt? Ihnen kann man jetzt nichts mehr antun. Während dieser Gedanke erstirbt, wird mir klar, was meinen Blick an ihre gehetzten Gesichter fesselt. Sie sind nun ewig unerreichbar. Wie Keats’ griechische Gestalten werden sie ihr Geheimnis – und damit auch ihre Schönheit – immer behalten. Ich kann sie niemals berühren. Und da ich sie nie berühren kann, kann ich sie auch nie verletzen. Indem ich mir diese Begnadigung gewähre, kann ich mir eingestehen, daß ich weiß, was sie brauchen. Sie brauchen Gerechtigkeit.
Aber der Gerechtigkeit kann nicht eher Genüge getan werden, als wir den Mörder in seinem Versteck aufgespürt, in Ketten gelegt und vor ein Gericht geschleppt haben. Vielleicht können Miles und ich bei der ersten Aufgabe mitwirken. Doch meine Logik bleibt soweit erhalten, daß ich das Ausmaß des Problems erkenne. Seit fast einem Jahr ist Brahma ohne jede Behinderung seinem Geschäft nachgegangen. Auf der ganzen Welt habe allein ich – und das auch nur wegen ein paar kleiner Wellen im EROS-Netz – das üble Kielwasser seines Vorbeisegelns bemerkt. Ich habe spät reagiert, aber ich habe reagiert, und damit habe ich gewisse Möglichkeiten geschaffen. Und dann hat das FBI in Dallas den einzigen Vorteil verstreichen lassen, den es je bekommen wird – das Überraschungsmoment.
Nun ist Brahma untergetaucht. Und er hat eine unendliche Matrix, in der er sich verbergen kann. Ich dachte einst, die Größe Amerikas sei geographisch zu sehen, Kilometer derWeite oder die Dichte der Wälder seien gewaltige Maßstäbe. Dann traf ich auf einer eisigen Straße in Chicago einen Mann und eine Frau, die ihr entführtes Kind suchten. Nach einem einzigen Gespräch und ein paar langen Blicken in ihre hohlen Augen erkannte ich, daß jeder Berg, den Lewis und Clark überquerten, jeder dampfende Sumpf, durch den De Soto sich quälte, jede Steppe, über die die Pioniere zogen, vom Kompaß durchschnitten, von der Ebene des Betrachters zerrissen, von Straßen zernarbt, von Satelliten fotografiert und auf etwas reduziert wurde, das man zusammengefaltet ins Handschuhfach legen kann. Aber diese verlorenen Eltern schauten über ein nicht kartographiertes Meer von Menschen, beteten vergeblich um den phosphoreszierenden Glanz einer lange verschwundenen Spur, und für sie war jede Klein- und noch viel mehr jede Großstadt ein Strudel, der hundert Kinder spurlos verschlucken könnte. Und über dieses Meer treiben die Millionen von Milchtüten, auf denen Fotos vermißter Kinder gedruckt sind, wie eine Flaschenpost, deren einziges Ziel genau wie das der Reste des vergangenen Abendessens eine Mülltonne ist.
Als ich die von Miles gestohlenen Fotos betrachte, weiß ich, daß irgendwo in eben diesem Meer ein Mensch schwimmt, der gesehen hat, wie die letzte Agonie die Gesichter dieser Frauen verzerrte, der das letzte Wort oder Jammern oder die letzte Bitte hörte, die über ihre Lippen kamen. Er bewegt sich problemlos in diesem Meer, denn er weiß, daß es keine Karten gibt, die jemanden zu ihm führen könnten; daß er sein grausiges Werk ungestört verrichten kann. Daß er seine Jäger verhöhnen kann. Daß nur ein Zufall seinen Kopf aus der Menge herausheben und ihn als einen Sohn Kains bloßstellen wird.
24
I
ch fand Brahma eine halbe Stunde vor Mitternacht.
Zu meiner Überraschung trieb er angeregt Konversation mit »Lilith« – Dr. Lenz’ persönlicher Eliza Doolittle.
Ich hatte etwa eine Stunde lang nach ihm gesucht und gelegentlich dabei innegehalten, um eine übergreifende Suche nach »Anne Bridges« vorzunehmen, dem Kundennamen, der hinter Lenz’ »Lilith« steckte. Ich durchsuchte auch ein paar Plauderlobbys nach »Shiva« und »Levon« und
Weitere Kostenlose Bücher