@ E.R.O.S.
uns beide verhaften.«
Er nickt ernst. »Sollte so etwas passieren, gehe ich durch den Tunnel raus, genau, wie ich gekommen bin. Und dann komme ich nicht zurück.«
»Drewe wird das nicht gefallen.«
»Ich weiß. Aber ich glaube auch nicht, daß sie mich im Gefängnis sehen will.«
»Wenn es nach ihr geht, dann lieber dich als mich.«
Er hängt die Gitarre wieder an die Haken und breitet sein langes Gestell auf dem Bett aus. Mit einem tiefen Seufzer dreht er den Kopf zu mir hin. Erschöpfung bewölkt seine Augen wie ein Schmierfilm eine Kameralinse.
»Wir haben zwei Möglichkeiten«, sagt er, als hätte ich seinem Plan bereits zugestimmt. »Wir können die Identität einer echten EROS-Kundin benutzen, einer Frau mit einem anonymen Konto. Oder wir können bei Null anfangen und eine fiktive Frau erschaffen.«
»Was wäre besser?« frage ich nach einem sinnlosen Augenblick des inneren Widerstands.
»Eine echte Frau wäre vom technischen Standpunkt aus einfacher. Aber es gibt auch Nachteile. Wir wissen nicht viel über sie. Brahma könnte Informationen ausgraben, die im Gegensatz zu dem stehen, was wir ihm sagen. Und falls Brahmas Auswahlkriterien tatsächlich auf medizinischen Grundlagen beruhen, wissen wir nicht, wie sie aussehen. Außerdem würden wir ihr Leben in Gefahr bringen. Ohne ihre Zustimmung. Außer, jemand wie Eleanor Rigby würde uns ...«
»Nein«, unterbreche ich ihn. Miles’ manipulative Tendenzen liegen nie tief unter der Oberfläche. Während ich über seine Worte nachdenke, tritt das Bild von Agent Margie Resslers frechem Jungengesicht vor mein geistiges Auge. »Was ist mit einer fiktiven Frau?«
»Der Vorteil liegt darin, daß sie sein kann, wie auch immer wir sie haben wollen. Der Nachteil ist, daß es sie nicht gibt. Was bedeutet, daß wir sie erschaffen müssen.«
»Was meinst du damit?«
»Bürokratie. Sozialversicherungskarte, Führerschein, Zulassung, Adresse. Das FBI kann für Lenz’ Lockvogel bestimmt Kreditkarten und alles andere fälschen.«
Lenz’ Prahlerei in seinem Auto fällt mir wieder ein. »Das haben sie schon«, bestätige ich. »Schaffst du das auch?«
Miles gähnt heldenhaft. »Klar. Aber ich habe nicht die Hilfe, die sie haben. Wenn wir uns für diese Möglichkeit entscheiden, muß ich es so einfach wie möglich halten. Überhaupt keine medizinischen Unterlagen. Auf diese Weise muß Brahma sich mit dem abfinden, was du ihm sagst.«
Trotz meiner Bedenken wegen der Risiken fasziniert Miles’ Vorschlag mich. Anstatt zu versuchen, ein Raubtier in der Hoffnung, ihm eine Falle zu stellen, zu uns zu locken – was im Prinzip Lenz’ Plan ist –, will Miles es dazu bringen, eine Handgranate zu schlucken. »Diese Ziele, die du erwähnt hast«, sage ich, als er die Augen schließt, »Kontakt mit Brahma aufnehmen, ihn dazu zu bringen, die Beziehung so langeaufrechtzuhalten, bis er auf E-mail umschaltet, und so weiter ...«
»Ja?« Er öffnet ein Auge.
»Du hast eins vergessen.«
Nun sind beide Augen geöffnet. »Was?«
»Das Arschloch zu schnappen, bevor es sich entschließt, mich umzubringen.«
Er lächelt, dann schließen sich seine Augen.
Miles schnarcht leise – obwohl er mindestens drei Tassen Kaffee intus hat –, während ich an meinem Schreibtisch sitze. Vor mir liegt der Inhalt seiner Aktentasche ausgebreitet. Drewe telefoniert noch immer mit ihrer Mutter. Gelegentlich hebt ihre Stimme sich über das Summen der Klimaanlage und des Computers.
Auf meinem Schreibtisch befinden sich so viele gestohlene Informationen, daß ich zwölf Stunden ununterbrochen lesen müßte, um sie alle einzusehen. Nicht nur Nexis-Zeitungsberichte, sondern auch Laboruntersuchungen und Berichte zahlreicher Detectives. Würde Miles versuchen, sie bei einer Gerichtsverhandlung als Beweismittel einzuführen, würden sie ihn sofort ins Gefängnis stecken. Doch neben den Fotos der Opfer verblaßt das alles zur Bedeutungslosigkeit.
Konfuzius hatte recht mit seiner Bemerkung über Worte und Bilder. Alle Worte auf dem Papier in diesem Stapel fügen sich zu einer bloßen Statistik zusammen, aber die Gesichter sind echt. Die Gesichter sind Menschen . Ein analytischerer Geist könnte vielleicht diese Statistiken betrachten und Gold sehen oder sein Schicksal, und würde überzeugt davon sein, daß nach ausreichend intensivem Studium dieser Zeilen und Schnörkel eine neue Beziehung wie ein Hologramm aus dem Chaos erstehen und ihm den Weg zu dem Mörder weisen würde. Doch bei Mord endet
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